Gedicht der Woche

An das Publikum

Kurt Tucholsky

O hochverehrtes Publikum,
sag mal: bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?

Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: „Das Publikum will es so!“
Jeder Filmfritze sagt: „Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!“
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
„Gute Bücher geh‘n eben nicht!“
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

So dumm, dass in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte …
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

Ja, dann …
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Grießbrei-Fresser –?
Ja, dann …
Ja, dann verdienst du‘s nicht besser.

Kurt Tucholsky unter dem Pseudonym Theobald Tiger Erschienen in der Weltbühne, 07.07.1931

Kurt Tucholsky (1890 bis 1935 ) war einer der bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik. Seine Beiträge erschienen unter den Namen Peter Panter, Theobald Tiger, Kaspar Hauser, Ignaz Wrobel und seinem eigenen in der Berliner Wochenzeitschrift. „Schaubühne“, die später „Weltbühne“ hieß. Der überzeugte Pazifist setzte sich besonders mit Militarismus, Nationalismus, Bürokratismus, einseitiger Rechtsprechung und kleinbürgerlicher Spießigkeit auseinander. Darüber hinaus kommentierte er treffend die Kunst- und Kulturszene in Literatur, Film, Musik und Theater, schrieb selbst Gedichte und Liedtexte. Zu seinen bekanntesten Prosawerken gehören „Rheinsberg“ und „Schloss Gripsholm“, die mehrfach verfilmt wurden. Als Meister der Satire ist er noch heute für namhafte Kabarettisten ein großes Vorbild.
Mit dem Hetzspruch: „Gegen Frechheit und Anmaßung, für Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist! Verschlinge, Flamme, auch die Schriften von Tucholsky und Ossietzky“ gehörte er zu den von den Nationalsozialisten „verbrannten Dichtern“ von 1933.
Tucholsky starb 1935 im Exil in Göteborg. Bis heute ist nicht erwiesen, ob es sich um Suizid oder eine versehentlichen Tablettenüberdosierung handelt. Der von ihm vorgeschlagene Grabspruch: „Hier ruht ein goldenes Herz und eine eiserne Schnauze – Gute Nacht“ wurde nie in seine Grabplatte im schwedischen Mariefred eingraviert. Stattdessen steht dort: Alles Vergänglich ist nur ein Gleichnis.
Viele seiner Werke erscheinen aus heutiger Sicht auch unter geänderten gesellschaftlichen Bedingungen immer noch oder wieder aktuell. Das Gedicht „An das Publikum“ fällt mir häufig beim abendlichen Surfen und schnellen Weiterschalten beim Angebot der Privatsender ein. Oder beim Nachlesen der Einschaltquoten…

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