Kindheit in der Zechensiedlung (16)

Howard B.Die Ahnen

Die Eltern meiner Mutter stammten beide von masurischen Landarbeitern ab, die mit der Industrialisierung ins Ruhrgebiet eingewandert waren. Sie wurden vielfach für die Arbeit auf den Zechen angeworben oder folgten der Verwandtschaft, die sich hier schon angesiedelt hatte.

Sie waren irgendwie auch „Wirtschaftsflüchtlinge“, die der abhängigen „Fronarbeit“ für die Gutsherren und Landbesitzer entfliehen wollten, um als zähe, fleißige Arbeiter ein besseres Leben führen zu können.
Mein Großvater, geboren 1905 in dem damaligen Graudenz, war mit sechs Jahren nach Dortmund gekommen. Er war der Älteste von neun Geschwistern. Wobei durch die vielen Kinder der Altersunterschied zu den eigenen Kindern oft nur minimal war. Meine Mutter war nur drei Jahre jünger als ihre Tante.

Durch eine chronische Magenkrankheit meines Urgroßvaters, der deshalb auf der Zeche nicht mehr voll einsetzbar war und viel „krankfeiern“ musste, hatte mein Opa eine entbehrungsreiche Kindheit erlebt. Man erzählte sogar in der Verwandtschaft, dass der Uropa in der schweren Zeit der großen Arbeitslosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg in Ickern betteln gegangen war, um so seine große Familie über die Runden zu bringen.

Meine Großmutter, Jahrgang 1906, war schon im Ruhrgebiet geboren worden, in Gelsenkirchen. Sie war auch die Älteste von sechs Geschwistern. Sie stammte mit ihrer Schwester aus der ersten Ehe meiner Urgroßmutter. Ihr Vater war an einer Darmkrankheit gestorben, die durch Erreger im Grubenwasser, was die Bergleute auch schon mal tranken, ausgelöst wurde.

Mit dem Stiefvater in zweiter Ehe bekam die Uroma noch vier weitere Kinder, zwei Mädchen und zwei Jungen. Meine Uroma besaß übrigens diese typische Ostpreussische Sprachfärbung und konnte auf Polnisch fürchterlich schimpfen.

Die Brüder meiner Oma sind beide im Krieg geblieben. Der eine als Soldat gefallen und der andere starb unter mysteriösen Umständen. Er diente bei einer Dortmunder Polizei-Einheit, die, so weiß man heute, als Erschießungskommando in den Osten abkommandiert wurde. Bei Heimaturlauben war er immer sehr bedrückt und in seinem Wesen verändert. Über seine Tätigkeit dort sprach er auch auf Nachfrage nicht.

Irgendwann kam die Todesnachricht, mein Großonkel sei beim Baden in der Weichsel ertrunken. Mein Urgroßvater machte sich sofort mit dem Zug auf den Weg zu der Einheit, um seinen Sohn vor dem Begräbnis noch einmal sehen zu können. Das wurde ihm verweigert und so sind die Todesumstände im Dunkeln geblieben und sorgten für viele Spekulationen.

Den anderen Bruder meiner Oma hat meine Mutter, so behauptete sie immer steif und fest, nachts in Uniform mit Stahlhelm als eine Art Vision gesehen. Es kam wenige Tage später auch tatsächlich die Nachricht, dass er gefallen sei. Diese hellseherische Gabe hatte sie wohl von meinem Opa geerbt. Der sprach immer von einem nächtlichen Klopfen am Küchenfenster, was außer ihm niemand gehört hatte. „Da hat sich wieder einer abgemeldet.“ sagte er dann.

Und tatsächliche folgte darauf immer eine Nachricht, dass jemand gestorben war. Diese besondere Veranlagung, die sicher von einem Slawischen Schamanen in der Ahnenreihe stammte, konnte er einmal sogar zu Geld machen. Er spielte manchmal Lotto. Immer den niedrigsten Einsatz, zwei Reihen und meisten zwei gleiche. So hatte er auch einmal tatsächlich „Fünf Richtige mit Zusatzzahl“ und das zweimal.

Es gab einen ansehnlichen Gewinn, den meine Oma auch großzügig an die Kinder verteilte. So kamen wir und die Familie meines Onkels an das erste Auto, einen VW Käfer.

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