Erinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Bodelschwingh und Westerfilde (6)

Heute:

Erinnerungen von Helmut Hartung, (*1929) Bodelschwingher Straße, Alte Kolonie , aufgeschrieben von Otto Schmidt im Februar 2009.

VorbemerkungenIm Juni 2009 hat die Gruppe Bodelschwingh-Westerfilde des Heimatvereins Mengede ein kleines Büchlein herausgegeben, das Erinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Bodelschwingh und Westerfilde wiedergibt. Diese Erinnerungen sind in 300 Exemplaren erschienen, bis auf den Archivbestand sind sie inzwischen alle vergriffen.
Da die Texte auch heute noch aktuell sind, haben wir uns entschlossen, in loser Folge und auszugsweise die „Erinnerungen“ nachzudrucken. Wir denken aber auch, mit einer erneuten Veröffentlichung dem Wunsch der damaligen Herausgeber nach einer „lebendigen Weitergabe unserer erlebten Geschichte in Bodelschwingh und Westerfilde“ zu entsprechen. MENGEDE:InTakt! setzt heute die Erinnerungen mit einem Bericht von Helmut Hartung fort. Einer der damaligen Herausgeber – Otto Schmidt – hat die Betreuung der auszugsweisen Neuauflage übernommen und wird die damaligen Angaben – wenn nötig – durch zusätzliche Informationen ergänzen. (K.N.)

Helmut Hartung erinnert sich:

Am Ende des Krieges war ich 16 Jahre alt.

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Leider gibt es kein anderes Bild vom dem Lager an der Straße Rohdesdiek. Die Aufnahme wurde vom der Straße Im Odemsloh, Abzweig Kirchen-feld gemacht. Die Lagergebäude sind als schwarzer Strich mit Punkten (Fenstern) unter dem Förderturm bis zum zweiten Kamin zu erkennen.

1938 stand an der Straße Rohdesdiek, zwischen der kath. Kirche und der heutigen Grundstücksgrenze zur Maschinenfabrik Völkmann, ein Barackenlager. Dieses Lager wurde in kurzer Zeit an der Stelle gebaut, wo vorher eine große Berge (Gesteins)halde der Zeche Westhausen gelegen hatte. Von 1939 bis 1940 waren in diesem Lager Wehrmachtssoldaten stationiert. Danach war das Lager mit russischen Fremdarbeitern belegt.

Meine Eltern und ich wohnten in der Alten Zechensiedlung an der Bodelschwingher Straße. Von der Zechensiedlung aus führte ein „schwarzer Weg“ zwischen der Kirche und dem Lager zum Rohdesdiek. Der war eine willkommene Abkürzung, wenn wir nach Westerfilde wollten.

Das Lager war durch eine hohe Umzäunung vom Ort abgesperrt. Rechts, vom Rohdesdiek gesehen, war ein Tor mit einer Einfahrt. Parallel zur Straße stand eine lange Steinbaracke, in einer zweiten Reihe dahinter, im rechten Winkel, mehrere Holzbaracken. Die Zugänge zu den Unterkünften in den Baracken lagen im Inneren des Lagers. In der Steinbaracke waren die Verwaltung, Küche, Vorratsräume und Flickstube untergebracht.

Für das Kochen, die Verpflegung und die Kleidung der Arbeiter waren russische Mädchen und Frauen verantwortlich. In der Mittagspause saßen die Mädchen öfter draußen. Als ich auf dem schwarzen Weg am Lager vorbeikam, rief eines der Mädchen: „Hallo Junge, komm doch mal hierher“. Ich ging zum Zaun und fragte, was sie wolle. „Kannst du mir das Lied besorgen ´Komm zurück, ich warte auf Dich, denn Du bist für mich all mein Glück“? Das war ein Schlager, der im Krieg oft gesungen wurde (z. B. von Rudi Schuricke). Dann kamen noch mehr Mädchen dazu, die auch deutsch sprechen konnten. Mein Schulfreund Josef hatte eine Karte, da stand dieser Text drauf; ich „kummelte“ ihm die Karte ab.
Bei der nächsten Gelegenheit stand ich am Zaun, um dem Mädchen die Karte mit dem Lied-Text zu geben. Das gelang mir auch. Aber da kam die Frau des Ortsgruppenleiters um die Ecke. Sie nahm dem Mädchen die Karte weg und hielt mir eine „Standpauke“: „Ein deutscher Junge tut so etwas nicht und gibt unseren Feinden Postkarten, und das noch im Ehrenkleid des Führers (Pimpf-Kleidung)“. Außerdem wollte sie ihrem Mann die Sache melden.
Meine Mutter hatte Angst und schickte mich zu dem „braunen Haus (Pastorat in Westerfilde)“, dem Dienst- und Wohnsitz des Ortsgruppenführers und seiner Familie; dort sollte ich mich für mein Vergehen entschuldigen. Ich klingelte. Nach einigem Hin und Her konnte ich bei meine Entschuldigung vorbringen. Mit der Aufforderung, so etwas schlimmes nicht wieder zu tun, wurde ich entlassen.
Im Frühjahr 1943, nach häufigen Bombardierungen, nahmen meine Eltern das Angebot der Regierung an, mich freiwillig nach Ungarn in die Evakuierung zu schicken. Ich war jetzt 13 Jahre alt. Ungarn unter der Regierung Horthy, wie auch die Tschechoslowakei (Reichsprotektorat) galt (noch) als sicher vor den Bombenangriffen des Feindes. Meine Freunde Franz Markowski, Werner Potschelni und Werner Fröse reisten mit mir in die Nähe von Ödenberg in Ungarn.
Nach einem halben Jahr kamen wir zurück. In der Zwischenzeit waren aber die Schulen in Bodelschwingh und Westerfilde geschlossen und die Kinder mit ihren Lehrern evakuiert. Meine Klasse war in Baden in dem Ort Gülbrichen untergekommen. „Nachschicken“ nach Baden ging nicht.

So wurde ich zur Arbeit bei der Firma C. H. Jucho in Dortmund eingeteilt. Hier mußte ich unter Anleitung der „Alten“ in einer Licht-Pauserei arbeiten. Die „Alten“ waren Männer im nicht mehr wehrfähigen Alter und Rentner, die wieder aktiviert worden waren. Während der Arbeit wurden wir in dem Raum eingeschlossen. Wir stellten Pausen (Kopien) von Zeichnungen von Kriegsgerät her: Panzer-, Geschütz und U-Boot-Teile. Die Zeichnungs-Originale wurden von außen durch Fächer in den Raum gesteckt, die Pausen mit den Originalen durch andere Fächer wieder nach draußen gesteckt. Diese Arbeit dauerte bis Mitte 1944.

Meine Eltern und ich machten sich Gedanken über meinen künftigen Beruf. Während meiner Schulzeit hatte ich öfter bei Treibjagden mitgeholfen, die vom Schloß Bodelschwingh, oder von der Gelsenkirchener Bergwerks AG (GBAG) von Schloß Westhusen aus veranstaltet wurden. Deshalb war mein Wunsch: Ich wollte Förster werden. Doch so einfach war das nicht. Die Ausbildung zum Förster kostete viel Geld, 5000 RM. Dieses Geld hatten meine Eltern nicht und ohne abgeschlossene Volks- oder Realschule war auch nicht daran zu denken. Da zeigte uns ein Bekannter meiner Eltern einen Weg auf, ohne Kosten und fehlendem Schulabschluß zum Ziel zu kommen: Er hatte uns geraten: Geh’ zum Artamanenbund (Anmerkung am Textende). Nach dessen Ideologie sollten u. a. Wehrförster aufgebildet werden. Die Ausbildung sah vor:
Ein Jahr Arbeit in der Landwirtschaft, danach zwei Jahre Besuch der Forstwirtschaftsschule, danach zwei Jahre Dienst bei der Waffen-SS, danach eine Arbeitszeit als „Eleve“ (Anerkennungsdienst) und dann, wenn alles erfolgreich und parteikonform absolviert war, sollten die so ausgebildeten Männer Wehrförster werden.

So war die Planung, ich wollte Wehrförster werden und fuhr Mitte 1944 mit anderen Jungens mit der Eisenbahn in Richtung Hannover, um bei einem Bauern zu arbeiten. Der Krieg hatte seinen eigenen Verlauf und nichts mit unseren Plänen gemein. So kam es, dass wir unterwegs eine neue Order bekamen: Wir fuhren zum Arbeitseinsatz nach Lüchow-Dannenberg ins Wendland zu den Bauern. Wir blieben dort ca. ein Jahr.
In diesem Jahr, weil die Invasion der Feinde an der Nordseeküste vermutet wurde, kamen wir zu viert nach Cuxhaven. Hier mußten wir etwa sechs Wochen lang Gruben für Panzer, Granatwerfer-Stellungen, Laufgräben und Unterstände für die Soldaten ausheben. Unsere Unterkunft war in einer Berufschule in Fransendorf (Frelsdorf?). Geschlafen haben wir auf Strohsäcken in einem Klassenraum. Morgens um vier Uhr mussten wir aufstehen, Nachmittags um 16:00 Uhr wurden wir mit der Bahn wieder zurückgefahren. Wir waren einer Pionierabteilung der Wehrmacht zugeteilt. Die Ostfront wich zurück und so erreichten jetzt die großen Flüchtlingsströme (Trecks) aus dem Osten Norddeutschland. Nach diesen Schanzarbeiten wurden 100 Jungen von uns wieder zurück nach Lüchow-Dannenberg verlegt. Da hatten wir die Aufgabe, die Straßen nach den Fliegerangriffen zu räumen, damit die Trecks nicht aufgehalten wurden und kein Chaos entstand. Die Jagdbomber schossen auf alle und alles, was sich bewegte; es war ein großes Elend. Wir Jungen hatten Hunger, die Rationen wurden immer kleiner. Wir hatten einen Eimer mit Vierfruchtmarmelade und Brotmarken in einem zerbombten Laden gefunden. Damit konnten wir Brot kaufen und uns Stullen mit der Marmelade streichen. Alles geschah heimlich, hätte man uns entdeckt, wären wir bestraft worden.

Wie andere Jungen in meinem Alter war ich von dem Gedankengut und dem schicken Aussehen der Soldaten der Waffen-SS geblendet. Als ich hörte, dass die SS-Division der Hitlerjugend in Russland dringend neue Soldaten brauchte, habe ich mich freiwillig gemeldet.
Zur Ausbildung an der Waffe und zum Einsatz kam es aber nicht mehr. Wir wurden jetzt zum Arbeitseinsatz zu Bauern in der Lüneburger Heide abkommandiert (Rebeck, Lüchow). Dann kam doch noch die Einberufung. Wir waren jetzt 16 Jahre alt und sollten uns in Salzwedel in einem Wehrertüchtigungslager (WE) melden. Das machten die Bauern aber nicht mit. Wir wurden dann nach Hohenlimburg geschickt.

– Im letzten Jahr (2008) haben es mir meine Kinder ermöglicht, dass meine Frau, die Kinder und ich die Bäuerin, bei der ich gearbeitet hatte, besuchen konnte. –

Wir sind vom nächsten größeren Bahnhof, wo der war, daran kann ich mich nicht erinnern, mit dem Zug in Richtung Ruhrgebiet gefahren. Ein Tag bevor die Alliierten den Ruhrkessel schlossen, waren wir in Hohenlimburg.
Dort wurden wir neu eingekleidet. Zu den Anziehsachen gehörte auch eine Skihose. Die habe ich drei Jahre getragen. Von Hohenlimburg ging es mit dem Zug nach Hause, nach Dortmund, nach Bodelschwingh, in die alte Kolonie. Jetzt aber mit Stehplatz auf den Trittbrettern oder auch mal im Waggon, wo man sich noch „hinquetschen“ konnte. Die Züge platzten aus allen Nähten.

Unsere Familie war noch vollständig, bei den Bombenangriffen war keiner zu Tode gekommen. Mein Vater arbeitete untertage auf der Zeche Westhausen als Meisterhauer (Ausbilder). Er wurde noch gegen Ende des Krieges zum Freikorps Sauerland (Volkssturm) eingezogen. Vorher war er immer von der Zechenleitung „reklamiert“ und darauf vom Kriegsdienst zurückgestellt worden. In dieser Zeit, so hat er mir erzählt, hatte er nach der Schicht im Dorf, im Saal der Wirtschaft Bergmann, Kohleöfen gegen Berechtigungsscheine ausgegeben. Diese Öfen wurden an Familien abgegeben, die ausgebombt waren und in Notunterkünften lebten.

Mein Vater wurde mit anderen Männern aus dem Ort zur Heimatverteidigung im Bereich des Lippe-Seitenkanals eingesetzt. Sie wichen dann zurück bis vor den Dortmund-Ems-Kanal zwischen Waltrop und Mengede. Die Drucks-Brücke war zu diesem Zeitpunkt schon gesprengt. Sein Kamerad Alfred Schultheis wollte mit einem Boot den Kanal überqueren, geriet in MG-Feuer und fiel noch in den letzten Kriegstagen. Mein Vater und seine Kameraden haben sich daraufhin versteckt und dann, auf welchem Weg auch immer, den Weg nach Bodelschwingh gefunden.

Über den Kampf um Bodelschwingh kann ich nicht viel berichten, wohl über seine Auswirkungen. Nachdem die Amerikaner in Bodelschwingh auf Widerstand gestoßen waren, zogen sie sich in Richtung Mengede zurück. Dann beschossen sie uns mit Granaten (Artillerie). Der erste Einschlag (in der Alten Kolonie) war bei der Fam. Gremme, der zweite in der kath. Kirche und der dritte bei Potschelni´s; Bäcker Ader kriegte auch was ab. Bei diesem Beschuss war ich bei Reisberg im Keller; mein Vater suchte mich anschließend. (In den Kellern waren die Zwischenwände der Häuser mit Durchbrüchen versehen; Notbetten standen in den Kellern.)

Irgendwann wurde nicht mehr geschossen, aber dann die Kellertür aufgerissen. Vor uns stand ein schwarzer Soldat mit Gewehr im Anschlag und fragte nach deutschen Soldaten. Bei uns waren keine und wir konnten aus dem Keller heraus kommen. Die Siedlungshäuser an der Bodelschwingher Straße wurden von den Soldaten besetzt. Wer dort wohnte, zog in die zweite Häuserreihe zu den Nachbarn.
Die Soldaten sammelten mit Leidenschaft alles, was irgendwie nach „Hitlerdeutschland“ aussah. Die Bilder des Führers waren schon verschwunden. Von ihnen zeugten nur noch die Schatten auf der Tapete. Ehrenzeichen (Mutterkreuz u. a.) waren sehr begehrt.
Problematisch wurde es, als die Amerikaner einige Flaschen Schnaps gefunden hatten. Der war einem Soldaten so zu Kopf gestiegen, dass er Amok lief: Er jagte mit seiner Maschinenpistole (MP) dem Feind, einem Hahn hinterher. Jedes Mal, wenn er ihn sah, schoss er eine Salve. Er lief um den Häuserblock bis zu den Kaninchen; die schoss er tot. Seine Kameraden lagen in den Fenstern und fanden das amüsierlich, bis er sie auch „beharkte“. Das wurde der Frau Posthof dann doch zu gefährlich und sie rannte zum kath. Vereinshaus (Barwe), wo die Amerikaner ihre Kommandantur hatten. Der Soldat wurde von seinen Kameraden „eingefangen“. Ob der Hahn davon gekommen war, weiß ich nicht.

Mein Traum vom Försterberuf war ausgeträumt. Direkt nach dem Krieg war es schwer, einen Ausbildungsplatz zu finden. So war ich froh, daß ich im November 1945 eine Schreinerlehre bei der Fa. Drees an der Bodelschwingher Straße beginnen konnte. Bis zu meinem Eintritt in das Rentenalter habe ich meinen Beruf dort ausgeübt.

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Teil der “Alten Kolonie” an der Bodelschwingher Straße. Hier wohnte die Familie Hartung. Ausmarsch der Luftschutzhelferinnen zur Übung, hier auf der Bodelschwingher Straße vor einigen Häusern der Kolonie (etwa 1941)

Ich möchte meine Erinnerungen schließen mit dem Lied, daß die russischen Mädchen gerne hörten:

KOMM ZURÜCK

Komm zurück
Ich warte auf Dich
Denn Du bist für mich
all mein Glück

Komm zurück
Ruft mein Herz immerzu
nun erfülle Du
mein Geschick

Ist der Weg auch weit
führt er Dich
und auch mich
in die Seligkeit
darum bitt’
ich Dich heut
Komm zurück

Komm zurück
ich warte auf Dich
denn Du bist für mich
all mein Glück

Komm zurück
ruft mein Herz immerzu
nun erfülle Du
mein Geschick

Ist der Weg auch weit
führt er Dich
und auch mich
in die Seligkeit
darum bitt’
ich Dich heut
Komm zurück

darum bitt’
ich Dich heut
Komm zurück

Zwischenmusik

Ist der Weg auch weit
führt er Dich
und auch mich
in die Seligkeit
darum bitt’
ich Dich heut
Komm zurück.

Anmerkung (O. Schmidt):
Was war und was machte der Artamanenbund?
Seit 1923 bildeten sich völkische Kampfgemeinschaften als Geheimbünde. 1924 schlossen sich Absolventen der Bauernhochschule Mecklenburg im protofaschistischen, die Blut-und-Boden-Ideologie vertretenden Artamanenbund zusammen. Die Nationalsozialisten planten nach der Ideologie des Artamanenbundes, nach dem „Endsieg“ in den eroberten Ostgebieten die Rückbesiedelung der Dörfer mit deutschen Siedlern und Bauern in Form von Wehrdörfern.
[s. a.: Ernst Haeckel, Sozialdarwinismus, Zuchtauswahl, Bewertung des Lebens, ideologische Vorbereitung der Euthanasie. Richard Walther Darré, Reichsbauernführer, Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft.]
Reichsführer-SS Heinrich Himmler und Darré kannten sich, machten sich das Gedankengut des Artamanenbundes zu eigen und prägten es für ihre Zwecke um.

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