Peter Grohmann – Alles Lüge außer ich *

Kapitel I: Der große Krieg und die kleinen Fluchten38397145z
1937 – 1947

Heute: Denkzettel 9 und Denkzettel 11

Denkzettel 9
Im Sommer 1945 gingen wir zurück nach Breslau. Die Russen gaben uns einen Napf Kascha, und wir durften mitfahren mit der Russen-Kolonne. Zurück nach Breslau? »Kaputter als Dresden kann nischt sein«, meinte die Mutter. »Und wo soll uns denn sonst der Papa finden?« Und: »Wo sollnwa denn sonst hin mit uns? Willkommen biste nirgens …«

Zurück nach Breslau! Ostwärts? Ostwärts. Kascha, Kascha, Kascha!, riefen wir.
Die Mutter: »Kascha is so‘n Brei. Brei aus Buchweizengrütze. Wenn‘s die nich gibt, kannste auch Hirse nehmen oder Hafer oder Gerste, was halt gibt. Bissel wie Graupen. Die russischen Soldaten ham das in großen Kesseln gekocht, auf’m Holzfeuer. Das war nur grob gemahlen, dann kam Wasser rein und Salz. Und dann hamse umgerührt, bis das Wasser weg war. Die Offiziere ham, wenn’s gab, noch saure und süße Sahne dazugetan. Kascha ham alle gekriegt, die Hunger hatten. Die Russen warn nich so.«

Morgens um zweie fuhr die Kolonne los. Als die Sonne aufging, hielt der Konvoi.
Schiffen. Wir waren die einzigen Zivilisten: Die Mutter und die beiden Söhne.
Die stolze Festung Breslau hatte 80 Tage lang und doch vergeblich dem neuen Mongolensturm standgehalten. Befreiung niemals! Sieg oder Tod. Heil Hitler.
Zum Volkssturm musste Mann und Maus. Zu guter Letzt wurden auch 13-Jährige erst in Uniformen, dann in die Schützengräben und anschließend in die Särge gesteckt.

Breslau kapitulierte am 6. Mai, Berlin am 2. Mai 1945. Vier Tage länger tot. Die Flugzeuge der Roten Armee warfen Flugblätter ab über der Stadt, um die Menschen zu demoralisieren. Die Flugblätter nahmen den Volkssturm auf die Schippe.
Heraus denn, was da kreucht und fleucht

Im Schulhof und im Kindergarten

Das Höschen nass, das Näschen feucht

Der Volkssturm ruft und kann nicht warten.

Wo immer Adolf Hitler auftauchte, versammelten sich deutsche Frauen, deutsche Mütter vor seinem Hotel. Sie warteten stundenlang und schrieen sich die Seele aus dem Leibe: Lieber Führer, sei so nett – zeige dich am Fensterbrett!

Die Rote Armee hatte Auschwitz am 27. Januar 1945 befreit, bevor sie Breslau niederkämpfen musste. Die Breslauer ahnten, was ihnen blühte. 3000 Breslauer hängten sich aus Verzweiflung oder Angst auf, nahmen Gift oder schossen sich eine Kugel in den Kopf. Der Rest hielt stand: Befehl ist Befehl.
15000 sowjetische Soldaten waren im Kampf um die Stadt gefallen, etliche zehntausend deutsche Zivilisten im eigenen oder gegnerischen Feuer, von den Kettenhunden der SS erschossen, weil sie was zum Fressen suchten.

Die Mutter: »Als wir zurückkamen nach Schlesien, warn vor den Häusern ganze Berge von Schutt und Müll. Es warn kalter Winter. Die Russen hatten ja jede Menge Panjewagen, ein oder zwei Pferde vorne dranne. Die Pferde ham se in die Erdgeschosse getrieben. Die hätten sich doch den Tod geholt, draußen. Uns ham se erzählt, dass der Russe alles aus dem Fenster gehaun hat, was im Wege war, und dann ebent die Tiere untergestellt. Die Russen erzählen aber, dass das die Deutschen warn. Die ham überall alles kaputt gehaun. Bevor sie abhaun mussten.
Alles verbrannt. Vergiftet. Damit dem Feind nischt in die Hände fällt. Naja, wem sollste glooben?«

Fast alle Häuser hatten Treffer – Brandbomben, Sprengbomben, Stabbomben, Granaten, Einschläge von Maschinengewehren. »Das hier warn normale Gewehrkugeln.« Wir Kinder wussten genau, was welche Treffer waren. Und achtungsvoll konnten wir oft sagen: »Volltreffer!«
»Ja«, wandten dann andere ein, »aber erscht anschließend ausgebrannt.« Wir hatten genug Sachkunde und erkannten scharfe Munition sofort. Wir wussten, was Stellungen der deutschen und was Stellungen der russischen Truppen waren, wie die Feuerlinien verlaufen waren. Wir kannten die strategische Bedeutung von Hügeln, Straßen, Brücken, wenn wir Uniformstücke fanden, wussten wir: Schütze Arsch, Unteroffizier, Leutnant. »Das sieht ja ein Blinder mit’m Krückstock.« Wenn wir was Größeres fanden, einen Blindgänger, eine Mehrzentnerbombe, die nicht hochgegangen war, begutachteten wir das Ding mit dem notwendigen Abstand (wie wir dachten), merkten uns die genaue Lage und malten dann als Warnung einen großen Totenkopf auf den Erdboden, um dann den Russen oder den Polen Fundmeldung zu geben. »Melder Grohmann, Bombe 80 Zentimeter, Hindenburgstraße 20, Garten.« Natürlich durften auch die anderen mal melden.
Das Metall der ganz gewöhnlichen Gewehrkugelhülsen konnte man verscheuern, aber wir freuten uns vor allem über die großen Granatsplitter oder andere Waffenteile aus Metall – das gab Gewicht. Bei Patronen, die noch nicht explodiert waren, musste man vorsichtig sein. Ganz vorsichtig durch gezielte, kleine Hammerschläge die Spitze von der Hülse lockern, das Zündpulver auf trockenes Papier und den Rest in die Metallsammlung.
Unsere Wohnung unterm Dach war heil geblieben, aber mehr oder weniger geplündert. Der russische Offizier, mit dem wir gefahren waren, blieb über Nacht. Vorm Haus schlief sein Adjutant im Auto. Deutschen Frauen kann man nicht trauen. Einer muss aufpassen. Am nächsten Morgen schoss er vom Wohnzimmer aus eine streunende Katze. Es war das erste Fleisch seit langem.

Denkzettel 11
In den Wintermonaten 1945/1946 kam die Rote Armee mit LKWs in die Vororte und brachte Essen für die hungernde Bevölkerung. Sie hupten, und die Kinder des Viertels liefen zusammen. Mal gab’s Kascha, mal eine Handvoll getrocknetes Schwarzbrot: steinhart. Da bissen wir und knabberten und versuchten im Heißhunger größere Brocken abzubrechen mit den Zähnen und wir kauten drauf rum am Kanten und lutschten, wenn’s doch zu harte war.
Die Kinderschar vor den Russen-LKWs wurde immer größer. Auf dem Auto stand ein Soldat, der austeilte und einer, der für Gerechtigkeit sorgte: Erst kamen die Mädchen an die Reihe, dann die Kleinen. Der Soldat hatte einen langen Stock, mit dem er den frechen und älteren Jungs auf die Hände schlug, wenn die sich zu sehr vordrängelten. Mein kleiner Bruder Ingo war immer vor mir dran. Wenn wir was ergattert hatten, rannten wir nach Hause. Aber hinter der nächsten Hecke lauerten oft die älteren Jungs und wir mussten teilen. Freiwillig. Oder halt paar auf die Gusche. Am sichersten war es, immer sofort alles zu essen. Runterwürgen, das Harte.

Als wir dann rausmussten 1947 aus den polnisch besetzten Gebieten, aus Schlesien, hatte sich doch wieder dies und das angesammelt an Eigenem. Wir mussten zu Fuß aus Krietern zum Breslauer Hauptbahnhof. Mitnehmen konnte man nur, was man tragen konnte. Auf den Bahnhöfen kontrollierten Volkskomitees das Gepäck. Da wurde diesem und jenem noch dies und das abgenommen. Pech. Anschließend kam die Miliz durch, deshalb musste in dem Waggon ein kleiner Gang frei sein. Ganz zum Schluss, als wir dachten, es ist alles vorbei, jetzt geht’s gleich los, kam noch einer und machte Körperkontrolle, griff zwischen die Beine und in die Büstenhalter und die Hosen. Die Leute waren ebenso entsetzt wie empört, ja, manche wagten sogar den Protest. Bei dieser letzten Kontrolle vor der Abfahrt wurde natürlich immer noch etwas gefunden, ein goldenes Parteiabzeichen, ein Trauring, ein Armreif …

Heute erinnere ich mich an das, was uns unser Freund Henryk Mandelbaum 2007 erzählt hatte, als wir mit den AnStiftern in Auschwitz waren, es war das Jahr, bevor er starb, und er hat uns aufgetragen, euch alle zu grüßen, die es gut meinen miteinander und mit den Völkern. Ein polnischer Jude, damals 16 Jahre alt und bärenstark.
Ihn hatten die Deutschen in eines der Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau gesteckt. Sie hatten die Aufgabe, die Leichen aus den Gaskammern zu holen, die über- und untereinander und nebeneinander lagen oder in Schichten, Kinder und Frauen und Männer, nackt. Er musste sie mit seinen Kameraden herausziehen und dann, Mensch für Mensch, Mann und Frau und Kind, durchsuchen – den nackten, toten Leib. Nicht nur einfaches Abtasten, ob da an einem Finger noch etwas steckte, unter den Armen vielleicht. Nein. Kräftig zugegriffen: erst die Ohren, dann die Nase, dann der Mund, und da, »Nicht so zimperlich!«, rügte der freundliche Deutsche. Es könnt noch Gold sein an den Zähnen. Nimm die Zange. Was ist unter der Zunge, im Rachen? Ein Edelstein vielleicht, ein Diamant, winzig und klein genug …
Sie haben’s überall versteckt, allen bösen Kontrollen zum Trotz findet der Mensch, auch ohne jedes Kleid, in größter Not eine Öffnung an seinem Körper, an dem versteckt werden konnte, was bis hierhin unentdeckt blieb wie der letzte Funken Hoffnung, der irrwitzige Glaube, dass es vielleicht doch nur die Dusche der IG Farben sein könnte, die letzte Säuberung von Ungeziefer, die unerklärliche Hoffnung, dass man selbst von diesem Ort davonkommen könnte. Da hineingegriffen also, hineingegriffen in alle Öffnungen, die wir Menschen haben. Er erzählte es uns Sprachlosen, Fassungslosen. Und dass es Routine war, und dass es ihn beschäftigt ein Leben lang bis heute und krank gemacht hat und dass er es so lange erzählen wird, wir er atmen kann. Was sie fanden, kam in eine stählerne Kassette mit schrägem Schlitz. Damit auch der deutsche Wächter nichts stehlen konnte, was dem deutschen Staat gehört von Rechts wegen.

Aufgeschichtet hat man sie dann, Holz dazwischen und die abgemagerten dürren Leiber im Wechsel, wenn’s denn ging, mit den gut genährten, und eine Rinne lief unten am Scheiterhaufen, in die das Fett tropfte, wenn die Feuer brannten, und sie brannten nie schnell genug, und eine Kelle war da, mit der sie das Fett über die Mageren gießen mussten.

2013. Jeder fünfte unter 30-Jährige kann mit dem Wort Auschwitz nichts anfangen. Eine Studie belegt, dass 20 Prozent aller Deutschen zumindest unterschwellig judenfeindlich sind.
Ach, Kinder, die Mandelbaums und die anderen werden uns noch eine Weile beschäftigen.

* Peter Grohmann – Jahrgang 1937 – , Kabarettist und Schriftsteller, Kämpfer gegen Obrigkeitsglauben, Gehorsam und Standesdünkel hat seine Lebenserinnerungen niedergeschrieben und 2013 veröffentlicht. Das Buch umfasst auf 320 Seiten acht Kapitel. Jedes Kapitel erinnert mit “Denkzetteln” an deutsche Geschichte – im jeweils 10-jährigem Rhythmus – eine Mischung aus Persönlichem und Politischen und meist aus beidem zugleich.
Wir setzen heute den Abdruck mit zwei weiteren “Denkzetteln” aus dem Kapitel I Der Große Krieg und die kleinen Fluchten 1937 – 1947 fort.
MENGEDE:InTakt! wird in den nächsten Wochen weitere Auszüge aus dieser Biographie abdrucken und bedankt sich beim Autor für die großmütige Erlaubnis. “Eine kurzweilige und vergnügliche Lektüre, bei der einem mitunter durchaus das Lachen im Halse stecken bleiben kann”. (Klappentext der Biographie))

 

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