Ian McEwan – Kindeswohl
Hoch angesehen und erfolgreich, kontrolliert, gewissenhaft, zeitlebens extrem ehrgeizig und begabt, ist Fiona Maye, Richterin am Londoner High Court, gemeinsam mit ihrem Mann Jack, Geschichtsprofessor für Alte Geschichte, eine gesellschaftliche Institution. Doch die dreißig Jahre einer liebevollen und harmonischen Ehe, die in letzter Zeit vielleicht ein wenig erstarrt ist, werden durch Jacks Mitteilung, er werde eine Affäre haben, mit einer jungen Frau, mit Leidenschaft und Ekstase, mehr als in Frage gestellt.
Ich brauche das. Ich bin neunundfünfzig. Das ist meine letzte Chance. Für ein Leben nach dem Tod fehlt meines Wissens bislang jeder Beweis. Schon in dieser ersten Auseinandersetzung, beherrscht und meist intellektuell geführt, taucht das eigentliche Thema des Romans auf: Glaube versus säkularer Blick auf das Leben der modernen Welt. Gespiegelt wird es in immer neuen Varianten, da Fiona als Familienrichterin gerade auch bei Fällen mit religiösem Hintergrund stets konsequent und unerschrocken zu Gunsten des Kindeswohls entscheidet. Doch aus der Vielzahl – brillant begründeter – Urteile im jüdischen, muslimischen und christlichen Glaubenskontext schält sich einer als existentiell heraus: Der des 17-jährigen Zeugen Jehovas Adam. Er und seine Familie lehnen die lebensnotwenige Bluttransfusion im Rahmen seiner Leukämiebehandlung ab. Innerhalb eines Tages muss der Fall entschieden sein.
Der Konflikt zwischen Religion und Ratio, die Stärken und Grenzen des britischen Rechtssystems, der unaufhörliche Takt zu fällender Urteile und der Zusammenprall jugendlicher Begeisterung und lebenserfahrener Abgeklärtheit, erzählt in einem unwiderstehlichen Ton von trockenem Sprachwitz und Präzision, führen in eine Dimension der Figuren von Liebe, Wärme und umfassendem Verantwortungsbewusstsein.
Hella Koch