Die Waldorfschule –
Wie groß sind die Unterschiede im Vergleich zur Regelschule? *
Zusammenfassung
Die nachfolgende Arbeit zeigt: Es gibt zwischen der Waldorfschule und der Regelschule erhebliche Unterschiede.
Positiv ist der Waldorfschule anzurechnen, dass die Schüler stärker nach ihren jeweiligen Begabungen gefördert werden, mit weniger Leistungsdruck lernen und außerdem nicht die Wissensvermittlung allein als Absicht im Vordergrund steht, anders als dies bei der Regelschule der Fall ist. Dies könnte zur Folge haben, dass Absolventen der Waldorfschule häufiger in kreativen Berufen anzutreffen sind, als die Absolventen der Regelschule. Auch einzelne Fächer, die über die der Regelschule hinausgehen, tragen zu dem Bild bei, Waldorfschüler würden auf das spätere Berufsleben besser vorbereitet, als Absolventen der Regelschule. Ob das wirklich so ist, wird vom Verfasser der Arbeit bezweifelt. Für ihn entsteht nach der intensiveren Befassung mit dem Thema der Eindruck, dass Waldorfschulen ihre Schüler zu einem gewissen Maß weltfremd erziehen.
1. Einleitung
In der Öffentlichkeit wird die Waldorfpädagogik nach Rudolf Joseph Lorenz Steiner rege diskutiert.
Dieser wurde am 25. oder 27. Februar 1861 in Kraljevec im damaligen Österreich als erstes Kind von Johann und Franziska Steiner geboren.
Zu seiner Familie hatte er ein eher distanziertes Verhältnis, was durch Angaben in seinem Lebenslauf deutlich wird (z.B. „Ich war ein Fremdling im Elternhaus“).
Fasziniert wurde Steiner durch ein Geometriebuch eines Lehrers, mit dem er sich stundenlang beschäftigen konnte. Auch im späteren Verlauf seines Lebens war Steiner eher ein Einzelgänger.
1879 absolvierte er nach dem Besuch der Realschule sein Abitur. Ein Studium zum Realschullehrer in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften musste Steiner aus finanziellen Gründen nach vier Jahren wieder abbrechen. Dennoch durfte er sich ab 1891 Dr. phil. Rudolf Steiner nennen, da er an der Universität Rostock erfolgreich promovierte.
Er war als Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften zuerst im Rahmen der Deutschen Nationalliteratur unter Joseph Kürschner (1882– 1887) und später als Mitarbeiter des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar (1890– 1897) tätig.
In Weimar veröffentlichte Steiner im Jahre 1894 sein Hauptwerk „Die Philosophie der Freiheit“, zog 1897 jedoch nach Berlin, wo er ab 1900 als Schriftsteller arbeitete.
Dort lernte er die Schauspielerin und seine spätere Ehefrau Marie Sivers kennen. Die Ehe blieb allerdings kinderlos. Durch die Ermutigungen seiner Frau gründete Steiner zunächst die Theosophische Gesellschaft und 1913 die Anthroposophische Gesellschaft. Letztere tagte ab 1916 im sogenannten „Goetheanum“ in Dornach.
Am 30. März 1925 starb Rudolf Steiner wahrscheinlich an Magenkrebs in Dornach, auch wenn Steiners Anhänger von einem Vergiftungsanschlag sprechen.
Gegen die auf ihm basierende Waldorfpädagogik bringt die Mehrheit der Bevölkerung die üblichen Klischees entgegen:
„Das Einzige, was die Waldorfschüler lernen, ist Singen und Klatschen“ oder „Das ist doch nur eine Schule für die, die im Leben nichts auf die Reihe bekommen werden“. Weit verbreitet ist zusätzlich die Meinung, dass die Besucher einer Waldorfschule nur dazu in der Lage seien, ihren „Namen tanzen zu können“.
Doch einige sind auch der Meinung, dass die Waldorfschule eine ernst zu nehmende Alternative zur Regelschule darstellt, da man dort ebenfalls das Abitur erwerben kann. Dies wird seit einiger Zeit zentral von der jeweiligen Landesregierung gestellt. Demnach sei es also gar nicht möglich, dass die Waldorfschule in vielen Bereichen von anderen Schulformen abweicht.
Sind die üblichen Vorurteile also wirklich wahr? Gibt es diese dermaßen großen Unterschiede zwischen der Waldorfschule und anderen Schulformen? Haben Waldorfschüler wirklich eine schlechtere Zukunftsperspektive, da sie im Unterricht zu wenig gefordert werden?
Dies werde ich versuchen, im Laufe der vorliegenden Arbeit zu klären.
2. Die Anthroposophie
Die Anthroposophie ist die Grundlage der Waldorfpädagogik. Sie geht auf Rudolf Steiner zurück und ist eine weltweit vertretene spirituelle Weltanschauung.
Steiner gliedert die Entwicklung des Menschen in verschiedene Stufen, die von der Geburt bis zum 21. Lebensjahr ungefähr in siebenjährige Zyklen unterteilt sind. Außerdem seien vier Wesensglieder festzustellen, die in den einzelnen Phasen ausgebildet werden.
Von der Geburt an bis zum Zahnwechsel (ungefähr mit sieben Jahren) wird der physische Leib entwickelt. Daher lernt das Kind im Vorschulalter vor allem durch Nachahmung.
In dem Zeitintervall vom Zahnwechsel bis zur Pubertät (im ungefähren Alter von 14 Jahren) wird der ätherische Leib bzw. der Lebensleib ausgebildet. Das Kind bildet sich weiter, indem es sich eine Autorität sucht, an der es sich beispielsweise an Werten orientiert. Zusätzlich gestalten sich beim Kind die Fantasie und das Gedächtnis aus. Es kann sich nun etwas bildlich vorstellen und sich Sachen einprägen. Hinzu kommt, dass das Kind erlernt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.
Im dritten Jahrsiebt formt sich der Astralleib, der es dem Jugendlichen ermöglicht, seine Seelen- und Triebkräfte frei zu geben. Dadurch wird der Jugendliche einzigartig. Er erlernt auf dieser Stufe, sich ein Urteil zu bilden und abstrakt zu denken. Des Weiteren ordnen sich die Gedanken des Jugendlichen und er denkt über seine anstehenden Handlungen zunächst nach. Daraus resultiert, dass der Jugendliche sich nun als eine Persönlichkeit ausbilden kann.
Nach dem 21. Lebensjahr ist der Mensch für sich selbst verantwortlich, da das „Ich“ nun vollständig ausgeprägt ist.
Diese vier Wesensglieder sind auch für das Temperament, das eine Person nach Steiner besitzt, wichtig. Die Idee der Temperamentenlehre basiert auf dem griechischen Arzt Hippokrates. Steiner unterteilt die vier Temperamente so:
„Wenn das Ich […] so stark geworden ist […] und die anderen Glieder beherrscht, dann entsteht das cholerische Temperament. – Wenn er dem Einfluss […] des astralischen Leibes […] unterliegt, sprechen wir dem Menschen ein sanguinisches Temperament zu. – Wirkt mit einem Überschuss der […] Lebensleib auf die anderen Glieder ein […], entsteht das phlegmatische Temperament. – Und wenn der physische Leib […] vorherrschend ist […], so-dass der Wesenskern nicht imstande war, gewisse Härten im physischen Leib zu überwinden, so handelt es sich um ein melancholisches Temperament.“
Karma (Schicksalsgesetz) und Alter bestimmen die Ausprägung eines Temperamentes. Dadurch ist jedem Jahrsiebt, das der Mensch während seiner Entwicklung durchläuft, ein bestimmtes Temperament zuzuordnen (z.B. dem ersten Jahrsiebt das phlegmatische Temperament).
Die verschiedenen Temperamentarten äußern sich in der Physiognomie und in bestimmten Charakterzügen. Ein Melancholiker beispielsweise hat eine nachdenkliche und vorgebeugte Körperhaltung und ist dazu eher dünn. Zusätzlich ist er pessimistisch, zurückhaltend und wenig erregbar.
Gerät eines der Temperamente außer Kontrolle, so kann sich ein krankhafter Charakter ausbilden. Die Ausartung des melancholischen Temperaments ist der Wahnsinn, Schwachsinn ist die des phlegmatischen Temperaments, Narrheit des sanguinischen und Tobsucht die des cholerischen Temperamentes.
3. Die Waldorfschule
3.1 Die Entwicklung der Waldorfschule
Die Waldorfschule ist eine Schule, an der nach der von Rudolf Steiner gegründeten Waldorfpädagogik unterrichtet wird, die auf seinen anthroposophischen Ansatz zurückgeht.
Nachdem Steiner die Arbeiter der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik (daher der Name der Schulen) mit seinen Vorträgen über soziale und pädagogische Themen begeistert hatte, bat 1919 deren Direktor Emil Molt Steiner, eine Schule für die Kinder seiner Arbeiter zu errichten. Steiner übernahm daraufhin die Leitung der ersten Waldorfschule in Stuttgart bis er 1925 starb. Kurz nach seinem Tod breitete sich die Waldorfschule auch im Ausland aus.
Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, wurden alle existierenden Waldorfschulen in Deutschland geschlossen und verboten, obwohl Steiner und seiner Menschenlehre faschistische Tendenzen nachgesagt wurden. Direkt nach Kriegsende wurden mit der Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft in West-Deutschland sechs ehemalige Waldorfschulen wiedereröffnet. Die Zahl der Waldorfschule verfünffachte sich ungefähr bis in die 1960er Jahre.
Gegen Ende dieses Jahrzehnts erhielt die Waldorfpädagogik großen Zuspruch, sodass sich die Zahl der Waldorfschulen bis 1990 auf 120 steigerte.
Auch in der DDR wurde in der direkten Nachkriegszeit versucht, neue Waldorfschulen zu gründen. So wurde die Schule in Dresden 1945 eröffnet, 1949 jedoch wieder geschlossen und generell verboten.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurden in den neuen Bundesländern relativ schnell neun Waldorfschulen eröffnet.
Heutzutage (Stand Januar 2013) zählt man in Deutschland 233 Waldorfschulen (davon zwei in Dortmund), weltweit sind es 1026 und jedes Jahr kommen noch weitere hinzu.
In Deutschland haben sich die Waldorfschulen zum „Bund der Freien Waldorfschulen e.V.“ vereinigt.
Dieser Bund übernimmt mehrere Aufgaben, unter anderem die Unterstützung und Beratung der einzelnen Schule oder die Finanzierung der Lehrerbildung.
3.2 Konzept
Steiners Anthroposophie wird auch bei der Lehrplangestaltung mit eingebunden. So hat er selbst bei der Gründung der ersten Waldorfschule den „lebendigen Lehrplan“, unter der Annahme, dass das Kind in seiner Identitätsfindung die gesamte Menschheitsgeschichte durchläuft, ausgearbeitet. Daher müssen auch die einzelnen Entwicklungsphasen in die Unterrichtsgestaltung mit einbezogen werden.
Dementsprechend stellt der Lehrer in den ersten acht Schuljahren die von den Schülern gebrauchte Autorität dar, an der sie sich orientieren können. Hier wird also auf die Kindesentwicklung im zweiten Jahrsiebt Rücksicht genommen. Diese Rolle wird dadurch verstärkt, dass der Lehrer dem Schüler nicht nur in der Schulzeit begegnet, sondern diesem regelmäßig Hausbesuche abstattet.
Da in der Waldorfschule selten Lehrbücher verwendet werden, kommt dem Lehrer eine ganz besondere Rolle zuteil:
„In der Waldorfschule herrscht der Lehrer; er ist König, absoluter Monarch und an keine Konstitution gebunden außer seine Wesenserkenntnis […]“
Er allein ist demnach dafür verantwortlich, wie sich seine Schüler entwickeln. Diese sind also ziemlich von den subjektiven Einschätzungen und Meinungen des Lehrers abhängig, da ihnen selten eine zweite Ansicht präsentiert wird.
Dem Kind soll allerdings nicht nur einfach Wissen vermittelt werden, sondern es soll sich ein „ganzheitliches, in die Tiefe gehendes Welt- und Menschenverständnis“ aneignen.
Der gesamte Unterricht soll Ehrfurcht und Scheu bei den Schülern hervorrufen, da der Schüler seine anthroposophische Umgebung nicht kritisch hinterfragen, sondern „genießen“ soll.
Steiner selber war aber strikt dagegen, dass seine anthroposophischen Ansätze selber gelehrt werden. Seine Lehre soll nur in die Lernplangestaltung und Methodik einfließen. Daher wissen die meisten Waldorfschüler zwar, dass die Gründung der Waldorfschule auf Rudolf Steiner zurückgeht, aber nicht was hinter diesem Namen steckt.
4. Der Vergleich zur Regelschule
4.1 Der allgemeine Vergleich
4.1.1 Der Unterricht
Grob unterteilt werden die Klassen in der Waldorfschule in Unterstufe (von der ersten bis zur achten Jahrgangsstufe) und Oberstufe.
Der Unterricht in der Waldorfschule selbst basiert wie bereits erwähnt auf der Anthroposophie. Daher findet auch Steiners Idee von der Entwicklung des Menschen Berücksichtigung in der Unterrichtsgestaltung. In den ersten acht Schuljahren ähnelt der Unterricht dem in der Grundschule.
Es gibt einen festen Klassenlehrer, der den sogenannten Hauptunterricht leitet. Dieser Hauptunterricht wird in einzelne Epochen unterteilt. Das bedeutet für die Schüler, dass jeder Schultag für mehrere (meist drei bis vier) Wochen zwei Schulstunden lang mit diesem Epochenfach, z.B. in den Fächern Deutsch, Mathematik oder Physik, beginnt. Durch diese „intensive geistige Beschäftigung“ soll gewährleistet werden, dass der Schüler das Erlernte im besten Fall für immer behält .
In der Regelschule hingegen wird in Haupt- und Nebenfächern unterschieden, wobei die Hauptfächer einen größeren Stellenwert einnehmen. Auch wird jedes Fach von einem sich auf diesen Bereich spezialisierten Fachlehrer unterrichtet.
Die Temperamentenlehre ist in der Sitzordnung der Waldorfschule vorzufinden. In einer mehrwöchigen Testphase stellt der Klassenlehrer fest, welches Temperament einem Schüler zuzuordnen ist. Ist diese absolviert, werden die Schüler, die sich in ihrem Temperament gleichen, zusammengesetzt. Durch ihr gleiches Temperament sollen sie sich selbst korrigieren, sodass sich das Temperament zurückbildet. Die Choleriker beispielsweise „prügeln und puffen sich gegenseitig, bis sie der Prügel und Puffe überdrüssig werden“.
Jede Temperamentengruppe hat zusätzlich ihren festen Platz im Klassenraum. Die Choleriker und Phlegmatiker müssen außen sitzen, während die Melancholiker und Sanguiniker mittig angeordnet werden.
Darüber hinaus erklärt der Lehrer neue Sachverhalte für jede einzelne Gruppe auf eine bestimmte Art und Weise, die auf das jeweilige Temperament zugeschnitten ist.
Auch dies ist ein Unterschied zur Regelschule, da die Schüler sich in dieser entweder ihren Sitznachbarn aussuchen dürfen oder die Sitzordnung gelost beziehungsweise vom Lehrer bestimmt wird. Bestimmt der Lehrer die Sitzordnung, ist es meistens so, dass ein leistungsstärkerer Schüler neben einem leistungsschwächeren platziert wird, sodass sich die Schüler untereinander helfen können.
Außerdem wird der Unterricht an der Waldorfschule wesentlich kreativer und fachpraktischer als an der Regelschule gestaltet, indem die Schüler neues Wissen durch anschauliche Bilder oder durch Bewegungen erlernen. Das Rechnen wird zum Beispiel mithilfe von Kastanien und Nüssen erlernt. Dass Bewegungen eine weitaus größere Rolle in der Waldorfschule spielen als in der Regelschule wird dadurch deutlich, dass zusätzlich in allen Klassen das Fach Eurythmie, eine Bewegungskunst, unterrichtet wird, in dem die Schüler lernen, ihr Innenleben durch Bewegungen und Gesten darzustellen. So gibt es in der Eurythmie für jeden Buchstaben und jeden Ton eine ganz bestimmte Gebärde. Dazu lernen die Schüler Musik und Texte in choreographische Bewegungen zu übertragen. Gestaltungsmittel der Eurythmie sind neben den Gesten noch Farben und Raumformen.
Weitere Unterrichtsfächer, die an der Regelschule nicht vorzufinden sind, sind unter anderem Gartenbau, Steinmetzen, Tischlern und Seidenmalerei.
Nach der Unterstufe beginnt sich der Unterricht in Waldorf- und Regelschule zu ähneln. Zwar werden an der Waldorfschule immer noch die kreativen Unterrichtsmethoden verwendet. Da die Schüler aber langsam an das Abitur herangeführt werden müssen, sind auch Methoden notwendig, die ebenfalls an der Regelschule vorzufinden sind. Daher wird ab der Oberstufe auch an der Waldorfschule nach dem Fachlehrerprinzip unterrichtet.
4.1.2 Die Leistungsbeurteilung
Im Gegensatz zu der Regelschule werden auf der Waldorfschule keine Noten verteilt. Auf Wunsch können Noten jedoch ab der neunten Klasse zur besseren Orientierung vermerkt werden. Zwar werden auf der Waldorfschule auch Tests und Klassenarbeiten geschrieben, diese werden jedoch nicht mit einer Note versehen, sondern mit einer individuellen Bewertung des Lehrers.
Ein weiterer Unterschied zur Regelschule liegt darin, dass es auf dem Zeugnis der Waldorfschule keine Noten gibt, sodass ein „Sitzenbleiben“ nicht möglich ist. Auf dem Zeugnis findet sich dagegen ein Zeugnisspruch, durch den der Schüler bewertet wird. Diesen Zeugnisspruch muss der Schüler dann auswendig lernen, um ihn im folgenden Schuljahr einmal wöchentlich aufzusagen. Ein Zeugnisspruch kann wie folgt aussehen:
„Mit harter Müh’ muss man Gestalt ihm geben.
Setz deinen Meißel mutig an
Und führe stetig Schlag um Schlag!
Wer kraftvoll und besonnen schaffen kann,
Der bringt das rechte Bild zutag.“
Auf der Regelschule dagegen findet man ab der zweiten Klasse Noten auf dem Zeugnis, die durch Bemerkungen ergänzt werden können.
Doch nicht nur die im Unterricht erbrachten Leistungen sollen vom Lehrer der Waldorfschule bewertet werden. Der Lehrer muss zusätzlich z.B. die Zahnbildung beachten, da diese ein Indiz dafür sein soll, wie bildungsfähig der Schüler ist. Schlechte Zähne weisen demnach auf Denk- und Lernschwierigkeiten hin. Diese Art von Beurteilung ist an der Regelschule nicht vorzufinden.
Auch Bestrafungen sind an einer Waldorfschule nicht unüblich. Das Strafmaß ist allerdings stark vom Lehrer abhängig. Oft wird auf Beschämung des Schülers durch Stehen in der Ecke mit dem Gesicht zur Wand oder ähnliche Sanktionen gesetzt. Eine andere disziplinarische Maßnahme ist das Festkleben von Händen, die ständig in Bewegung sind, mit Klebestreifen auf der Tischplatte. Zwar gibt es auf der Regelschule auch Möglichkeiten der Bestrafungen, die im Gegensatz zu denen auf der Waldorfschule bei weitem nicht so erniedrigend und streng ausfallen. Hier muss der Schüler zum Beispiel den Klassenraum verlassen, ein Gedicht oder die Verhaltensregeln abschreiben.
4.1.3 Die sonstigen Unterschiede
Da die Waldorfschule keine staatliche Schule ist, wird sie von diesem auch nicht im gleichen Maße finanziell unterstützt wie die Regelschule. Daher muss die Waldorfschule Schulgeld von den Erziehungsberechtigten verlangen, um den Erhalt der Waldorfschule zu gewährleisten.
Da sich die Waldorfschule allerdings als eine „Schule für alle“ bezeichnet und sie zusätzlich nicht gegen das im Grundgesetz festgehaltene „Sonderungsverbot“ verstoßen darf, bilden Lehrer und Erziehungsberechtigte sogenannte Solidargemeinschaften. Diese besagen, dass der Lehrer auf einen Teil seines Gehalts verzichtet und die Erziehungsberechtigten ein einkommensabhängiges Schulgeld überweisen.
Das durchschnittliche Schulgeld an deutschen Waldorfschulen betrug im Jahr 2010 ungefähr 1920 €. Diese Zahl variiert aber je nach Bundesland.
Auf der Regelschule fallen normalerweise keine Kosten an. Die Schüler müssen sich hier jedoch zumindest zum Teil Lehrbücher oder Ähnliches anschaffen. Nur wenn der Schüler über die reguläre Schulzeit hinaus betreut wird, wird ein Elternbeitrag auf der Regelschule fällig. Dieser ist allerdings auch wieder von der jeweiligen Region abhängig.
Noch ein Unterschied zwischen Waldorf- und Regelschule ist die Größe der einzelnen Klassen. Zwar ist die Größe der Klassen von der Schule selbst abhängig, jedoch kann man feststellen, dass die Klassen in der Waldorfschule im Durchschnitt größer sind als die in der Regelschule.
Während eine Klasse einer Regelschule aus circa 20 bis 30 Schülern besteht, sind in der Waldorfschule häufiger Klassen mit einer Stärke von bis zu 38 Schülern vorzufinden.
Diese große Gruppe wird dann noch mal geteilt, sodass sich die Schüler im besten Fall gegenseitig helfen und der Lehrer den Schülern unterschiedliche Aufgaben geben kann.
Im Gegensatz zu Lehrern an der Regelschule benötigen Waldorfschullehrer keine universitär-wissenschaftliche Ausbildung, sondern lediglich einen Abschluss des „Instituts für Waldorfpädagogik“, auf dem überwiegend Steiners Anthroposophie vermittelt, aber das jeweilige Fachwissen vernachlässigt wird.
Den eigentlichen Abschluss auf der Waldorfschule, den Waldorfschulabschluss, erreicht man erst nach der Regelschulzeit von zwölf Jahren. Dieser ist in Deutschland jedoch nicht staatlich anerkannt. Es besteht aber die Möglichkeit innerhalb dieser Schulzeit auch die staatlichen Schulabschlüsse, wie zum Beispiel den Hauptschulabschluss und die mittlere Reife zu erwerben. Schüler, die das Abitur absolvieren wollen, müssen ein 13. Abiturvorbereitungsjahr besuchen, in dem „nach dem normalen Gymnasiallehrplan“ unterrichtet wird. Auch hier bestehen Unterschiede zur Regelschule. Auf dem Gymnasium zum Beispiel erreicht man nach der neunten Klasse den Hauptschulabschluss, nach der Einführungsphase die mittlere Reife, nach der Qualifikationsphase 1 die Fachhochschulreife und nach der Qualifikationsphase 2 das Abitur.
4.2 Die Unterschiede im Fach Geschichte
Das Fach Geschichte nimmt an der Waldorfschule einen größeren Stellenwert ein als an der Regelschule, da der Lehrplan der Waldorfschule auf der Annahme beruht, dass das Kind in seiner Entwicklung die gesamte Menschheitsgeschichte durchläuft.
Da man allerdings erkennen kann, dass das Interesse der Schüler für historische Begebenheiten immer weiter sinkt, „muss das Interesse für geschichtliche Zusammenhänge also erst geweckt werden“, sodass der Grundstein dafür schon in den ersten Schuljahren gelegt werden muss.
Dabei macht sich wieder das Problem der Subjektivität bemerkbar, da der Lehrer Vergangenes persönlich einschätzen und den Schülern präsentieren muss. Denn ohne „die Gefühlsanteilnahme der Schüler“ wird es eindeutig erschwert, Interesse bei den Schülern zu wecken. Daher zählen mythologisch-dichterische Bilder und veranschaulichende Erzählungen zu den wichtigsten Hilfsmitteln eines Geschichtslehrers an einer Waldorfschule.
Um allerdings die Objektivität zu wahren, muss der Lehrer jeweils beide Seiten eines historischen Ereignisses beleuchten.
In den ersten vier Schuljahren wird der Unterricht auf die Geschichte des Heimatortes, der Heimatstadt und des jeweiligen Bundeslandes beschränkt. Beim Übergang in die fünfte Klasse behandelt man dann allerdings nicht nur das gesamte Heimatland, sondern gleich die gesamte Kulturentwicklung der Menschheit. Dies geschieht bis zum Abschluss der siebten Klasse.
„In der achten und neunten Klasse sind die Schüler begierig, so viel wie möglich über ihre eigene Zeit zu erfahren“, sodass in beiden Jahrgangsstufen der Zeitraum vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart bearbeitet wird. In der achten Klasse wird dabei besonderer Wert auf die Wirtschaftsgeschichte gelegt. In der neunten Klasse stehen dann jedoch die politischen, kulturellen und sozialen Ereignisse im Vordergrund.
Nach diesen beiden Schuljahren ist dieses Bedürfnis der Schüler befriedigt, sodass man in der zehnten Klasse die ehemaligen Hochkulturen thematisieren kann. Besonders herausgestellt werden dabei die geografischen und soziologischen Verhältnisse in der jeweiligen Hochkultur, die mit der Gegenwart verglichen werden.
Der Geschichtsunterricht in der elften Klasse verläuft parallel mit dem Literaturunterricht und bezieht sich auf die kulturgeschichtlichen und religiösen Strömungen im Mittelalter.
Die zwölfte Jahrgangsstufe fasst dann alles im Unterricht Erlernte zusammen und setzt all das in Verbindung zueinander, sodass die Schüler einen Gesamtüberblick über die Historie verabreicht bekommen.
Übergeordnet hat der Geschichtsunterricht zur Aufgabe, die gegenwärtigen Weltprobleme und deren Bewältigungsmöglichkeiten zu schildern. Dadurch sollen die Schüler in der Lage sein, selbst über soziale Anschauungen, wie den Marxismus, urteilen zu können.
An der Regelschule wird dieses Fach in der Grundschulzeit nicht eigenständig unterrichtet, sondern die Erkundung der eigenen Region fließt in den Sachunterricht mit ein und stellt somit inhaltlich eine Ähnlichkeit zu der Waldorfschule dar.
Beim Übergang auf die weiterführende Schule, zum Beispiel dem Gymnasium, beginnt man dann, von den antiken Hochkulturen an die Zeitgeschichte fortlaufend bis hin zur Gegenwart zu thematisieren. Im Gegensatz zu der Waldorfschule werden hier einzelne Abschnitte der Historie in den verschiedenen Jahrgängen nicht mehrfach wiederholt.
Ein weiterer Unterschied zur Waldorfschule liegt darin, dass der Unterricht an der Regelschule fast durchgängig an das Lehrbuch und an Arbeitsblätter angelehnt ist.
Den Schülern soll an der Regelschule fundiertes Wissen über die Vergangenheit vermittelt werden, welches sie wiederum auf ihr gegenwärtiges Leben beziehen sollen. Dadurch sollen die Schüler an der Regelschule an der Gestaltung der Zukunft mitwirken können.
Frederic Linke