Vorbemerkungen
In der letzten Woche haben wir mit dem Abdruck der beiden ersten Folgen eines in jeder Hinsicht bemerkenswerten Textes begonnen. Es handelt sich um Erinnerungen von Frau Bärbel Howarde an ihre Kindheit in der Zechensiedlung, d.h. in der Kolonie in Mengede. Im Augenblick liegen lediglich die Texte vor, die entsprechenden Fotos versuchen wir noch von Fall zu Fall einzufügen – sofern wir welche finden. Frau Howarde lebt heute in Dingen in der „Westheide“ und verfolgt die Ereignisse im Stadtbezirk Mengede naürlich mit besonderem Interesse. (K. N.)
In der heutigen Folge: Hebamme Kessler, Pastor Stenger und Fischhändler Spielhofen
Als ich am 12. Oktober 1951 mit Hilfe der legendären Mengeder Hebamme Frau Kessler zu Hause zur Welt kam, hatte meine Mutter neun Monate Schwangerschaft hinter sich. Zwar dauern Schwangerschaften meistens neun Monate, aber zu dieser Zeit gab es auffällig viele Frühgeburten. Das hatte folgenden Grund: Kündigte sich bei einem Paar Nachwuchs an, wurde möglichst schnell, aber auch oft auf Druck der Familie geheiratet. Da bis zur Feststellung einer Schwangerschaft einige Wochen vergehen können, kamen dann die Frühgeburten zur Welt, die unmittelbar in der Hochzeitsnacht gezeugt waren.
Ledige Mütter mit unehelichen Kindern waren ein großer gesellschaftlicher Makel und brachten – so meinte man damals – Schande über die ganze Familie. Erstaunlicherweise haben diese unter Druck entstandenen Ehen meist lebenslang gehalten. Heutzutage muss wegen einer Schwangerschaft nicht mehr geheiratet werden und die Ehen halten selten lange.
Meine Eltern waren zu diesem Zeitpunkt schon fast zwei Jahre verheiratet. Sie hatten sich bei einer Karnevalsveranstaltung kennen gelernt . Es muss gleich gekracht haben, denn schon im Juni wurde geheiratet. Man ging in Straßenkleidung – meine Mutter in einem geliehenen Kleid und mit einem Blumenstrauß aus dem Garten – zu Pastor Stenger in die Remigius Kirche zur Trauung. Der schien nach seinem Schuhwerk zu urteilen gerade irgendwelche Garten- oder Feldarbeiten unterbrochen zu haben. Für ein Brautkleid oder eine größere Feier fehlte 1949 das Geld. Allerdings war für einen Umzug des Knappen-Vereins die Straße geschmückt und sorgte so für eine gewisse Feierlichkeit bei diesem Gang.
Ich war ein Wunschkind und hatte zudem mit meiner Großmutter und Tante am gleichen Tag Geburtstag. Meine Kindheit war – mit einem Anflug von Nostalgie betrachtet – wunderbar. Ich hatte irgendwie zwei Mütter. Meine richtige Mutter und meine Großmutter. Es war immer jemand für mich da. So wurde ich auch früh in Gartenbau und Tierhaltung eingeführt, indem ich meiner Oma und meinem Opa nach meinen Möglichkeiten mit Kinder-Schaufel und -Harke helfen durfte.
Auch an Spielkameraden war kein Mangel. In den umliegenden Häusern gab es viele Kinder in jeder Altersstufe. In den Gärten und auf den Höfen hatten wir unser Abenteuerland und aßen das Obst vom Baum und die Möhren direkt vom Acker. Zwischendurch holten wir uns auch mal ein Butterbrot ab, was die Mutter aus dem Fenster reichte. Die Marschallstraße war zu dieser Zeit eine nichtasphaltierte Schlaglochpiste. Und Autos waren – vor allem von den Jungs bestaunt – eine große Seltenheit. Der Fischhändler Spielofen fuhr noch mit Pferd und Wagen seine Heringe aus. Der „Milchbauer“ verkaufte aus seinem Wagen die Milch lose und zapfte sie direkt in die mitgebrachte Kanne. Heut zu Tage aus hygienischen Gründen unvorstellbar. Später kam ein Eismann dazu, wo man für 10 Pfennige eine große Kugel Milcheis in einer Waffeltüte bekam.