In der heutigen Folge: Naturlocken und schöne, dicke Zöpfe
Mit drei Jahren kam ich zusammen mit meiner Spielfreundin Karola in den Kindergarten an der Ammerstraße: Eine soziale Einrichtung der Zeche für die Kinder der Betriebsangehörigen. Dort wurden neben der Betreuung der 3-6jährigen ein sogenannter Hort für Schulkinder bis 10 Jahren und eine Hauswirtschaftschule für Mädchen nach dem Schulabschluss angeboten.
Karola war das jüngste von sechs zum Teil schon erwachsenen Kindern, ein sogenannter Nachkömmling. Da sie von ihren Geschwistern nicht unbedingt geschont wurde, wusste sie sich durchzusetzen. Ich, das verhätschelte Einzelkind, hatte da so meine Probleme. Ich musste lernen, nicht mehr die erste Geige zu spielen, und bei kleinen Auseinandersetzungen mit den anderen Kindern war ich eher der Pazifist. So zog ich meist immer den Kürzeren bei Streitigkeiten um Spielzeug und Sitzplätze.
Jährlich kam der Betriebsarzt der Zeche zur Reihenuntersuchung vorbei und Kinder, die besonders mager oder auch rachitisch waren, wurden für mehrere Wochen zur Erholung in ein sogenanntes Kindergenesungsheim geschickt. Über diese Heime grassierten die schlimmsten Gerüchte, was die pädagogischen Maßnahmen betraf, wenn ein Kind z. B. den obligatorischen Haferbrei nicht essen wollte oder konnte. Sie sollten natürlich ein paar Kilo zugelegt haben, wenn sie wieder nach Hause kamen. Auch im Kindergarten war man da manchmal nicht zimperlich. Kinder die einfach nicht still sein wollten, bekamen den Mund mit Heftpflaster zugeklebt. Was ich damals schon als besonders barbarisch empfand, zumal die Betroffenen völlig entstellt und etwas angsteinflößend aussahen.
Ich war eher ruhig und angepasst , bis auf das eine Mal: Ein anderes Kind mit Naturlocken hatte besonders schöne, dicke Zöpfe. Meine Mutter erzählte meiner Großmutter davon und schwärmte regelrecht über das schöne Haar dieses Mädchens. Meine Haare, damals noch hellblond, waren eher spisselig und taugten noch nicht einmal zu banalen „Rattenschwänzchen“. Meine Großmutter arbeitete zwar mit Birkin, einem damals gängigem Haarwasser, ständig dagegen an, aber ohne Erfolg. Ich roch zwar gut, wenn ich nicht gerade im Hühnerstall Verstecken gespielt hatte, aber meine Haarqualität blieb die Gleiche.
Ich trug daher die übliche Kinderfrisur Tolle mit Kamm und litt darunter, wenn der Kamm schmerzhaft zum Frisieren entfernt wurde. Bei besonderen Anlässen bekam ich eine große Schleife ins Haar. Das wirkte aber damals schon etwas kaiserzeitlich und wurde bald eingestellt. Als also einmal wieder Abholzeit im Kindergarten war und die Müttern noch zu einem Tratsch zusammenstanden, rannte ich auf dieses Mädchen zu und schubste es in die nächste Matschpfütze. Meine Tat erzeugte so großes Entsetzen bei meiner Mutter, dass diese Handlung straffrei blieb, so glaube ich wenigstens. Es wurde niemals hinterfragt und ich, mit meinen drei Jahren habe meiner Mutter nie erzählt, warum es dazu gekommen ist. Ansonsten verlief meine Kindergarten Zeit ohne weitere Vorkommnisse.
Mit Eintritt in die Schule kam ich in den Kinderhort. Der war organisiert wie die Volkshochschule. An drei Nachmittagen in der Woche von 14-17 Uhr konnte man an verschiedenen Kursen teilnehmen. Es wurden Gruppen angeboten wie Blockflöte, Laienspiel, Singen, Kochen, Handarbeiten und andere. Außerdem verfügte der Kindergarten über eine kleine Leihbücherei, wo man Kinder- Literatur für die unterschiedlichen Altersgruppen an zwei Tagen in der Woche ausleihen konnte. Das war wie alle anderen Angebote völlig kostenlos.