Kindheit in der Zechensiedlung (8) – Von „Mutterklötzchen“, „Nazibonzen“ und von der Blechmarke mit Nummer

In der heutigen Folge:Kindheit 8 Kaue

Von „Mutterklötzchen“, „Nazibonzen“ und von der Blechmarke mit Nummer

Die Zeche oder „der Pütt“, wie der Bergmann sagt, war auch der Arbeitsplatz meines Großvaters und Vaters. Mein Opa arbeitete krankheitsbedingt „über Tage“ auf der Schachtanlage Westhausen in Bodelschwingh und wurde Mitte der 50er Jahre „kaputt geschrieben“, wie man die vorzeitige Verrentung aus Krankheitsgründen nannte.

Kindheit Westhausen

Zeche Westhausen

Mein Vater hatte nach der Kriegsgefangenschaft in Frankreich erst seinen alten Beruf bei der Bahn wieder aufgenommen. Ist dann aber, als ich mich als Nachwuchs angemeldet hatte, zur Zeche Adolf von Hansemann in Mengede gewechselt. Dort konnte man, wenn man jung, gesund und fleißig war, als Hauer „Vor Ort“, also direkt an der Kohle, im Akkord gutes Geld verdienen. Das Familienfahrrad teilten sich, je nach Schicht, Opa und Vater, um zur Arbeit zu kommen. In einem Arbeitshandtuch mit typischem blaukariertem Muster wurde eine Blechflasche mit Muckefuck Ersatzkaffee oder Tee und ein paar „Kniften“ – die Butterbrote – mitgenommen. Raucher packten auch etwas Kautabak ein, denn unter Tage durfte nicht geraucht werden. Das nannte man den Puck.

Kindheit A.v.H. 2

Adolf v. Hansemann

Außerdem diente dieses Handtuch auch dazu, einen Pegel, ein abgesägtes Stück Grubenholz aus dem Pütt zu schmuggeln. Dieses „Mutterklötzchen“ wurde in Spalten gehackt, um damit die Kohleöfen anzufeuern, denn mit Zeitungspapier gelang das nicht richtig.

Die Arbeitskleidung wurde in der „Weißkaue“1) an Haken hochgezogen aufbewahrt und wöchentlich zum Waschen mit nach Hause gebracht. Die Bergleute hatten eine Blechmarke mit Nummer, unter der sie registriert waren. Bei der Einfahrt erhielten sie gegen Abgabe der Markennummer ihre Lampen ausgehändigt. So konnte also jederzeit nachvollzogen werden, wer gerade unter Tage war. Das war sehr wichtig, denn es gab zu dieser Zeit noch viele tödliche Arbeitsunfälle bis hin zu verheerenden Schlagwetterexplosion mit vielen Toten.

Kindheit 8 Kaue

Das vorstehende Foto wurde am 7.4.2015 in der Praxis eines Catroper Artzes entdeckt (K.N.)

Eine schlimme Katastrophe ereignete sich am 15. Juli 1935 auf der Zeche A. v. Hansemann. Gegen Mittag dieses Tages gab es unter Tage eine Explosion – entweder eine Schlagwetter- oder eine Kohlenstaub-Explosion – bei der 17 Bergleute getötet und über 30 verletzt wurden. Ganz Mengede trauerte. Die Nazis nutzten dieses Unglück für ihre Zwecke. Sie veranstalteten eine propagandistische Trauerfeier, an der auch Nazigrößen aus Berlin teilnahmen. Ein Heer von mehr als 300 Hakenkreuz-Fahnen schmückte den Trauerzug, der von der Zeche zum ev. Friedhof führte. Die „Nazibonzen“ wurden von einer Dame aus der Trauergemeinde mit den Worten in Richtung Berlin verabschiedet: „Und grießen Sie mir den Fiehrer recht hibsch“ !

1936, am ersten Jahrestag des Unglücks, wurde für die Opfer ein vom Soester Bildhauer Wilhelm Wulf entworfenes Ehrenmal aus Bronze auf dem Friedhof aufgestellt: Ein überlebensgroßer Bergmann mit gesenktem Kopf, der mit der linken Hand seinen Hut an seinen Körper drückt und in der rechten Hand eine Grubenlampe trägt – für uns Kinder immer ein etwas unheimlicher Anblick.

Kindheit Bergmann

Die Markennummer 1 hatte ein Mann mittleren Alters mit Schlägermütze, auch „Arsch mit Griff“ genannt, der mit einem Fahrrad durch die Kolonie fuhr. Bei seinem Anblick hielten die Bergmannsfrauen den Atem an, besonders wenn ihre Männer „auf Schicht“ waren. Weil es in den Zechenhäuser keine Telefone gab, benachrichtigte er die Kumpels bei irgendwelchen Wechseln der Schichten. Er musste aber auch die Angehörigen informieren, wenn es Unfälle gegeben hatte, die nicht selten tödlich waren. Niemand kannte seinen richtigen Namen. Er wurde immer die „Markennummer 1“ genannt.

Kindheit Westhausen
Die Löhne wurden als „Abschlag“ und „Restlohn“ bar in der großen Lohnhalle an verschiedenen Schaltern ausgezahlt. Wenn mein Vater „auf Mittagsschicht“ war, habe ich meine Mutter einige Male dorthin begleitet. Manchmal standen auch die Frauen am Zechentor, um den Männern mindestens einen Teil des Lohnes abzunehmen, damit nicht alles in den umliegenden Kneipen landete.

1) In den Schwarzkauen entledigten sich die Bergleute nach der Arbeit ihrer Arbeitskleidung und duschten dort; anschließend zogen sie in der Weißkaue ihre normale Straßenkleidung an.
Hinweis: Die vortehenden 3 Abbildungen der Zeche A. v. Hansemann und der Zeche Westhausen wurden von Franz-Heinrich Veuhoff zur Verfügung gestellt