Lass Dein Wort wie Edelstein,
stets in Deinem Munde sein!
Verschwende nie der Worte viele,
ganz wenig führen nur zum Ziele.
Im Herzen trag den Diamant
Und leb Dein Leben mit Verstand.
(A. Richmann)
Frauenpower im Stadtbezirk-
Heute: Anni Richmann
Das aktuelle Interview in der Reihe „Frauenpower im Stadtbezirk Mengede“ führt uns zu einer alten Mengederin. „Alt“ dürfte sie gelten lassen, denn mit inzwischen 95 Jahren gehört sie in der Tat zu den älteren Menschen im Stadtbezirk. Aber zu den „alten Mengedern“ will sie sich nicht zählen lassen.Zu gut sind noch ihre Erinnerungen an ihre Jugendzeit, als die „alten Mengeder“ ihre Eltern und sie unverblümt als Zugereiste bezeichneten, was sie damals als verletzend empfunden hat.
Doch der Reihe nach. Ihre Eltern haben Ende des ersten Weltkrieges geheiratet und sind danach nach Mengede gezogen. Der Vater ist in Pommern aufgewachsen, die Mutter im Lipperland.
Geboren wurde Anni Richmann 1920 in Mengede, im Haus des damaligen größten Schuhgeschäftes Brasse. Das lag am früheren alten Marktplatz, gegenüber dem Gasthof Vahle, dem Westfalenhof und der Drogerie Surmann. Als Kind hat sie häufig in der Schusterwerkstatt gesessen und dem Schuhmachermeister Brasse bei der Arbeit zugesehen und kleine Dienste verrichtet. Sie war fasziniert, mit welcher Sorgfalt und Präzision der Schuhmachermeister die Schuhe reparierte bzw. anfertigte oder wie aufmerksam er die Kunden bediente.
Damals war der Kunde noch König. Wenn Herr Brasse Leder für die Schuhe von einem Händler kaufte, dann wurde das vorher ausgiebig begutachtet, befühlt und beschnuppert. Wurde die Ware für gut befunden, konnte er sie auch mit gutem Gewissen an seine Kundschaft weitergeben. An den Geruch in der Werkstatt und die ganze Atmosphäre kann Anni Richmann sich heute noch gut erinnern.
A. Richmann wollte eigentlich nie in Mengede bleiben. An die teilweise herablassende Art, mit der die sog. Pohlbürger ihren Eltern und ihr begegneten, mochte sie sich nicht gewöhnen. Als Pohlbürger werden die bezeichnet oder sie bezeichnen sich selbst als solche, die seit vielen Generationen in einem Ort leben. Der Begriff hat auch etwas mit dem „Spießbürger“ zu tun, ursprünglich ein waffentragender Bürger, der seine Heimatstadt mit dem Spieß als Waffe verteidigen durfte.
Die gesellschaftliche Entwicklung im Ruhrgebiet nahm durch den rasanten Anstieg des Bergbaus eigentlich eine ganz andere Richtung. Es zogen aus Norddeutschland und Polen zahlreiche Menschen hierhin, um im Ruhrgebiet dauerhaft zu leben und zu arbeiten. Der damalige wirtschaftliche Aufschwung dieser Region ist wesentlich den „Neuen“ zu verdanken. Gleichwohl fühlten sich die Zugezogenen für lange Zeit nicht anerkannt, die Alteingesessenen fühlten sich häufig als etwas Besseres. Sichtbar wurde das auch in Mengede: Auf der einen Seite das „Alte Mengede“ auf der anderen die „Kolonie“ – beide versuchten sich gegeneinander abzugrenzen, was durch die Eisenbahnlinie der Köln-Mindener Eisenbahn nicht nur optisch, sondern auch tatsächlich besonders unterstützt wurde.
Jedenfalls muss dies der jungen Anni deutlich bewusst geworden sein. Allerdings erinnert sie sich gerne an die Zeit vor der Machtübernahme durch die Nazis. In ihrer Erinnerung war Mengede damals – vor allem vor der Eingemeindung und auch vor der Weltwirtschaftkrise – fröhlicher, vielfältiger und unbeschwerter als in den nachfolgenden Jahren. Als Kind spielte sie beinahe jeden Tag in der Williburgstraße mit anderen Kindern alles, was irgendwie mit Bewegung zu tun hatte: Seilchenspringen, Kästchenhüpfen, Rollschuhlaufen, Bälle fangen, Fangen und Verstecken. Vor allem das Versteckspiel war wegen der guten Möglichkeiten, sich in den Hinterhöfen der Williburgstraße zu verstecken besonders beliebt.
Die distanzierte Haltung zu Mengede änderte sich auch nicht, als sie und ihr Mann Heinz Richmann 1947 heirateten, obwohl dieser eher zu den „alten Mengedern“ zählt. Familiäre Bindungen bestanden durch ihn u.a. zu den „Bauklohs“.
Zumindest nach außen war er eine „Frohnatur“, den auch eine bleibende Behinderung an seiner rechten Hand – erlitten nach einem Unfall mit 14 Jahren – nicht von seinem Optimismus abbringen konnte.
Mit ihm erlebte A. Richmann gute Jahre. Während sie gelegentlich über das Dasein grübelte, war ihr Mann immer guter Laune. Allerdings wollte er nichts dem Zufall überlassen, diese Eigenschaft war verbunden mit absoluter Zuverlässigkeit. Das Ehepaar ergänzte sich auf diese Art in idealer Weise.
Ihr Mann hatte im Kaufhaus L. Baum & Sohn gelernt und gearbeitet. Als die Familie Baum nach Amerika auswanderte und das Kaufhaus von Friedrich Emsinghoff übernommen wurde, wurde A. Richmann übernommen und hat lange Zeit im Kaufhaus Emsinghoff in der Herrenabteilung als Geschäftsführer gearbeitet. Er wurde dort als zuverlässiger und gut informierter Fachmann allseits geschätzt.
Als ihr Mann im Jahr 1990 im Alter von 78 Jahren verstarb, fiel sie zunächst in ein tiefes Loch. Sie hatte früher zwar mal eine Lehre als Schneiderin absolviert und während des Krieges bei der Bahn gearbeitet, aber danach nicht mehr (verheiratete Frauen gingen nach dem 2. Weltkrieg nur in seltenen Fällen einer Arbeit nach). Es kam ihr zugute, dass sie sich nie über ihren Mann definiert, sondern in der Ehe versucht hat, eigene Fähigkeiten und Talente zu entdecken und weiter zu entwickeln. So hatte sie sich immer für Kleider interessiert, wie sie aussahen, wie sie wirkten und wie sie hergestellt wurden bzw. besser hätten hergestellt werden können.
Dadurch konnte sie ihrem Mann mithelfen, als dieser in der Ammerstraße ein eigenes Bekleidungsgeschäft eröffnete. Dieser Schritt erfolgte eher der Not gehorchend. Nachdem Emsinhoff in Mengede sein Bekleidungsgeschäft geschlossen hatte, fand der Nachfolger – Machol – der damals 50jährige Heinz Richmann sei zu alt für den Betrieb, was dann zu der Geschäftsgründung an der Ammerstraße führte.
Schon früh hatte sie zu malen begonnen, wobei sie feststellte, dass sie sich dabei wunderbar entspannen konnte. Aquarellieren war ihre bevorzugte Maltechnik.
Sie bewunderte den englischen Impressionisten William Turner und versuchte, Bilder in seinem Stil zu malen.
Außerdem begann sie wieder Klavier zu spielen. Sie schrieb kleine Gedichte und Gedanken in Versform, die in einem kleinen Büchlein worden sind.
All diese Aktivitäten musste sie im Laufe der letzten Jahre reduzieren bzw. auf Null zurückschrauben, weil sie heute praktisch in ihrer Sehkraft erheblich eingeschränkt ist. Es gibt zwar eine Reihe technischer Hilfsmittel, die ihr den täglichen Alltag erleichtern, aber lesen und schreiben oder gar malen und Klavierspielen ist schwierig bis unmöglich. Trotzdem will sie sich nicht unterkriegen lassen.
Kinder Gottes sind wir alle,
ob sie weiß, gelb, schwarz ob braun.
Kein Recht , auch ihn zu lieben,
weil sie andere Symbole schaun?
Dankbar sein für das, was uns gegeben,
was wir fühlen, was wir sehn,
dem Andern auch das Recht zu lieben geben,
er hat das gleiche Gottvertraun,
da wir alle denselben Himmel schaun.
(A. Richmann)
Sie denkt in letzter Zeit – mehr noch als früher – viel über die Natur, das Leben, das Kommen und Gehen nach und manchmal gelingt es ihr doch noch, den einen oder anderen Gedanken festzuhalten.
Als wir in unserem Gespräch an diesem Punkt angekommen sind, wird eine Veränderung spürbar. Während wir bisher eher distanziert über ihr Leben gesprochen haben, wirkt sie jetzt wie verwandelt.
Es beschäftigt sie sehr die Frage: Bestimmen wir eigentlich selbst, was wir im nächsten Augenblick tun wollen oder folgen wir lediglich chemischen Reaktionen, die wir fälschlicherweise als eigene freie Willensentscheidung ausgeben. Ebenso die Frage, die sich durch alle Religionen zieht: Gibt es ein Leben nach dem Tod.
Kürzlich hat sie im Radio eine Sendung gehört, in der es darum ging, die Welt zu verstehen. Einer der Gäste vertrat die These, man könne die Welt besser verstehen, wenn man sie mit einer Suppe vergleiche, die meisterhaft gekocht würde. Alle Zutaten müssten in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Sobald von einer nur etwas zu wenig oder zuviel beigegeben würde, wäre die Qualität hinüber.
Das hat ihr gefallen, ebenso der Vergleich der Geburt eines Lebewesens mit dem Urknall. Über diese und z. B. jene Frage nach der Herkunft unseres Geistes könnte sie mit großer Ausdauer diskutieren. Dabei lässt sie sich häufig auch von anderen Weltregionen inspirieren und bekommt die Gelassenheit, die notwendig ist, sich mit den Beschwernissen des Alltag abzufinden.
Auf die Frage, ob sie Wünsche habe, antwortet sie ohne zu zögern: Sie gäbe vieles, wenn sie den Rest Ihres Lebens noch einmal in der Unbeschwertheit ihrer Kindheitstage verbringen könnte.