Mein Lieblingsgedicht*
von Ulla Inselherz **
Bleib wer du bist
Einst brütete an einem Weiher,
ein Reiherpärchen seine Eier.
Die Reiherfrau sprach zu dem Mann:
„Erst brüte ich, dann bist du dran.“
Und während sie so saß und wärmte,
sie von den beiden Kindern schwärmte.
„Sie werden hier auf dieser Erden,
die besten Reiherkinder werden.
Sie werden brav sein, schön und schlau.“
So sprach zum Reihermann die Frau.
Im ersten Ei tat sich was regen.
„Pass auf, jetzt kommt der Kindersegen!“
Mit einem kleinen Schnabelhieb,
kam heraus der Bruder Piep.
Von Kopf bis Fuß ist er ganz grau.
„Ein richt‘ger Reiher“, sagt die Frau,
„komm her, mein Junge, kleiner Piep,
deine Mama hat dich lieb.“
„Er wird brav sein, schön und schlau“,
sprach zum Reihermann die Frau.
Und drückt den Piep, so recht mit Lust,
an ihre magere Reiherbrust.
Der Reihervater, zärtlich warm,
nahm klein Piep in seinen Arm.
„Bist mein Junge, kleiner Piep,
aus diesem Grund hab ich dich lieb.“
Das zweite Ei in tiefen Schlummer,
macht Reihermama großen Kummer.
Doch Tage später war’s soweit,
ein Schwesterchen im rosa Kleid.
„Wie sieht sie aus, schau sie dir an!“,
sagt Reiherfrau zu ihrem Mann.
„Die Farbe hat sie nicht von mir,
die muss sie ändern, sag ich dir.“
Die Mama schaut sie böse an,
schaut böse auch auf ihren Mann.
„Ach wär sie nur wie Bruder Piep,
dann hätt ich sie genau so lieb.“
Klein Rosa macht die Augen weit,
streicht traurig übers Federkleid.
„Ich geb mir Mühe, ich werd grau,
wie ’ne richtge Reiherfrau!“
Sie beißt sich auf die kleine Zunge:
„Vielleicht werd ich sogar ein Junge!
Dann bin ich wie mein Bruder Piep,
und meine Mama hat mich lieb.“
Der Reihervater zärtlich warm,
nahm klein Rosa in den Arm.
„Bist mein Kind, genau wie Piep,
aus diesem Grund hab ich dich lieb.“
Reihervater, kluger Mann,
schaut sich die Ahnentafel an.
„Denk dir nur, das ist ein Clou,
die Oma, die sah aus wie du.“
Klein Rosa macht die Augen weit,
streicht traurig übers Federkleid.
„Ich will sein wie Bruder Piep,
dann hat die Mama mich doch lieb.“
Die Kinder wuchsen schnell heran,
und fast schon war der Piep ein Mann,
er lernte schnell die vielen Sachen,
die Reiher so im Leben machen.
„Er ist brav und schön und schlau“,
sprach zum Reihermann die Frau.
Und drückte Piep so recht mit Lust,
an ihre magre Reiherbrust.
Und Rosa strengte sich sehr an,
sie wurd nicht grau und auch kein Mann.
Sie konnt sich noch so tüchtig biegen,
sie lernte kaum einmal das Fliegen.
Die Mama schaut sie böse an,
schaut böse auch auf ihren Mann.
„Ach wär sie nur wie Bruder Piep,
dann hätt ich sie genau so lieb.“
Der Reihervater zärtlich warm,
nahm klein Rosa in den Arm.
„Im Leben sind, drauf leg ich Wert,
ganz andre Dinge oft verkehrt.“
Dann macht der Vater ihr noch Mut.
„Auch rosa finde ich dich gut.
Bist mein Kind, genau wie Piep,
aus diesem Grund hab ich dich lieb.„
* Mit diesem Gedicht beginnt MENGEDE:InTakt! eine neue Serie. Mitglieder der Redaktion sowie Leser von MENGEDE:InTakt! werden in regelmäßiger Folge ihre Lieblingsgedichte vorstellen oder zumindest solche, zu denen sie eine besondere Beziehung haben.
**Die Verfasserin des vorstehenden Gedichtes ist im Jahre 1954 als jüngstes von fünf Geschwistern in Mengede geboren. Hier verbrachte sie ihre Jugend und viele Jahre ihres Lebens. Jetzt wohnt sie schon seit langem im benachbarten Waltrop, wo sie freiberuflich tätig ist. Nach wie vor fühlt sie sich aber ihrer alten Heimat verbunden. Unter dem Pseudonym „Ulla Inselherz“ schreibt sie seit einiger Zeit Gedichte; eines davon ist zum Auftakt der neuen Serie vorstehend abgedruckt.