Kindheit in der Zechensiedlung (17)

In Bodelschwingh gibt es nicht nur die KirmesHoward B.

Meine Mutter hatte zwei Brüder. Der jüngere ist 1947 bei einem Badeunfall ums Leben gekommen. Ein paar Burschen hatten sich an einem heißen Juni-Tag am Dortmund-Ems-Kanal getroffen. Darunter auch ein Nichtschwimmer.

Um sich gegenseitig ihren Mut zu beweisen, sprangen sie auch von der Kanalbrücke in das Wasser. Der Nichtschwimmer geriet dabei in eine gefährliche Situation und mein Onkel, eigentlich ein guter Schwimmer, wollte ihm helfen. Der Junge zog ihn in seinem Todeskampf unter Wasser und beide ertranken. Mutters Bruder hatte bei der Firma „Drumann Fahrzeugbau“ eine Lehre zum Schmied gemacht und erst kurz zuvor seine Gesellenprüfung abgelegt. Er wurde nur 18 Jahre alt.

Die gesamte Familie belastete dieses traumatische Erlebnis noch über viele Jahre und der frühe Tod ihres Lieblingskindes „Wernerken“ hätte meiner Großmutter, im wahrsten Sinne des Wortes, fast das Herz gebrochen. Sie war oft krank, verließ tagelang das Bett nicht und ein früher Herztod wurde ihr von einem Arzt in Aussicht gestellt.

Sie ist dann aber doch 84 Jahre alt geworden, denn mit den Geburten der Enkelkinder kehrte sie nach und nach wieder ins Leben zurück. Meine Mutter musste in dieser Zeit ihre Hauswirtschafts-Lehre aufgeben, um Vater und Bruder zu versorgen.

Der andere Bruder zog nach der Heirat nach Bodelschwingh in den Völkmanns Weg und bewohnte dort mit seiner Frau und inzwischen zwei Kindern eine winzige Mansarde in einem Haus, das so wie viele andere mit Eigenleistung gebaut war. Im Flur und am Treppenaufgang hingen ausgestopfte Vögel, Eichhörnchen und Marder an den Wänden. Ein tierliebes Haus….

Die Kinder und auch ich, wenn ich auf Besuch war, durften sich nicht mucken. Es gab zwar einen großen Garten mit Gemüsepflanzen, die in Reih und Glied standen wie die Soldaten auf dem Exerzierplatz, er war aber für uns Kinder als Spielplatz tabu. Etwas weiter entferntere Orte zum Spielen aufsuchen durften wir noch nicht. So standen wir meist vor dem Haus auf dem nichtvorhandenen Bürgersteig herum und versuchten uns nicht dreckig zu machen.

Etwas später zogen meine Verwandten um die Ecke in ein neuerrichtetes Haus in die Straße „Am Kirchenfeld“. Dort gab es große zusammenhängende Rasenflächen bis zu den Häusern „Im Odemsloh“, die uns Kindern genug Platz boten zum Spielen und Toben . Das Haus, in dem später die Gaststätte „Brock“ eröffnete wurde, heute eine Massagepraxis, war gerade im Bau und wir spielten in den großen Betonröhren hinter der Baustelle Verstecken. In den Ferien blieb ich oft einige Tage bei meinen Verwandten zu Besuch. Auch meine Großmutter fuhr oft nach Bodelschwingh, um meiner Tante zu helfen, die sich in den ersten Jahren ihrer Ehe als Hausschneideren etwas dazu verdiente.

Ein besonderes Ereignis in Bodelschwingh war die Kirmes. Die findet noch immer von samstags bis montags am ersten Wochenende im Juli statt. Die Fachwerkhäuser im Ortskern wurden vorher frisch gekalkt, um bei den Besuchern einen guten Eindruck zu machen. Nur auf die Misthaufen vor manchen Türen konnte oder wollte man nicht verzichten. Am Montag hielt man einen großen Kram- und Viehmarkt ab.

Überhaupt war und ist die Kirmes ein großes gesellschaftliches Ereignis. Leute kamen auch aus den umliegenden Vororten und man traf sich zum „Prölken“ oder zum Feiern im Biergarten der Gaststätte „Wiemann“ an der Ecke Bodelschwingher Str.

Wenn wir zur Kirmes aufbrachen, wurde immer der Hinweg zu Fuß durch das freie Feld vom „Ammerbaum“ bis „Wachteloh“ zurück gelegt. Nach Hause fuhren wir mit der Straßenbahn Linie 5. Wir trafen Tante, Onkel und Cousinen und wenn wir Kinder vom ein- bis mehrmaligen Fahren auf den Karussels müde waren und die Erwachsenen aber noch ein wenig bleiben wollten, wurden wir von „Tante Matta“ abgeführt, in das Ehebett von Tante und Onkel gelegt und von ihr beaufsichtigt.

Sie war ein sogenannter „Juff“, abgeleitet wahrscheinlich von der „ alten Jungfer“. Das männliche Gegenstück der „Öhm“ arbeitete oft lebenslang als Knecht oder Helfer bei Bauern und wurde meist als Familienmitglied betrachtet. Ein Denkmal für „Tante Matta“! Sie hat jahrzehntelang als „Guter Geist“ in einem Westerfilder Arzthaushalt gearbeitet.

Auch außerhalb der Kirmes waren wir z. B. an Geburtstagen in Bodelschwingh unterwegs. Am 6. Dezember kam immer der Nikolaus, und vor allem das Wasserschloss mit seinem Park hatte es mir besonders angetan. Ein Schloss kannte ich bis dahin nur aus den Märchen, die meine Oma mir vorlas. Man konnte damals das Schlossgelände und den anschließenden Wald noch ungehindert durchstreifen. Auch der Bodelschwingher Berg war an den wenigen Schneetagen eine beliebte Rodelpiste. Bei diesen Besuchen galt: „Hin zu Fuß, zurück mit der „5“!

Die Haltestelle mit der kleinen Trinkhalle lag ungefähr da, wo heute die S-Bahn Strecke die Bodelschwingher Str. überquert. Wir konnten beim Warten auf die Bahn über die unbebaute Fläche in Richtung Innenstadt fast bis zum Horizont blicken, und wenn es dunkel war, den roten Schein des Feuers bei einem Abstich auf der „Hütte“ sehen. Die „Hütte“ – also „Hoesch“, das Stahlwerk – war in der nicht immer so guten alten Zeit, neben dem Bergbau, der wichtigste Arbeitgeber, vor allem für die südlichen Vororte, aber auch für Dorstfeld und die Nordstadt.

Mein Vater aß vor der Heimfahrt immer einen Rollmops, der in dem „Büdchen“ neben Soleiern aus einem großen Glas angeboten wurde, und ich durfte mir eine kleine Süßigkeit aussuchen.