Buchempfehlung: REICH und ARM

Joseph Stiglitz: REICH und ARM – Die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft42686578z

Wie notwendig ist es eigentlich, dass wir uns mit der wachsenden Ungleichheit in unserer Gesellschaft auseinandersetzten? Ist diese Ungleichheit unabänderlich, weil sie eine notwendige Begleiterscheinung oder gar Voraussetzung für das Funktionieren unseres marktwirtschaftlichen Systems ist? Wer dieser Frage ernsthaft nachgehen will, dem kann der jetzt erschienene Sammelband „REICH und ARM – Die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft“  des Amerikaners Joseph Stiglitz wärmstens empfohlen werden.

Doch zuvor als Einstimmung auszugsweise ein Beitrag von Christoph Butterwege, der in der Weihnachtsausgabe der Wochenzeitung „der Freitag“ auf S. 10 mit der Überschrift „Auf dem Weg ins Mittelalter“ erschienen ist. Dieser Beitrag sollte alle Zweifel an der Notwendigkeit einer ungeschminkten Auseinandersetzung mit der Umverteilung des Reichtums in unserer Gesellschaft beseitigen:
„Deutschland ist ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung eine wohlhabende, aber gleichwohl tief zerklüftete Gesellschaft. Die soziale Ungleichheit hat sich im vergangenen Jahrzehnt besonders drastisch verschärft, wie selbst die OECD, ein Zusammenschluss der hoch entwickelten Industrieländer, bemängelt. Bei der Konzentration von Vermögen belegt die Bundesrepublik in Europa einen Spitzenplatz, und die Armut erreicht auch einen Teil der Mittelschicht, verfestigt sich dort zunehmend und löst bei einem anderen Teil soziale Abstiegsängste aus, was irrationale Reaktionen hervorruft.
Mehr als 100 Milliardäre und eine Million Millionäre stehen inzwischen dreieinhalb Millionen überschuldeten Haushalten gegenüber. 40 % der alleinerziehenden Mütter beziehen Hartz IV. Viele bringen am 20. des Monats kaum noch etwas Warmes für ihre Kinder auf den Tisch. Es gibt SeniorInnen, die unbeschwert Kreuzfahrten machen, aber auch Millionen RentnerInnen, die morgens Zeitungen austragen, öffentliche Toiletten putzen, wenn sie nicht Pfandflaschen aus Mülleimern klauben, um damit ihre kärgliche Altersrente aufbessern zu können.
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aut neuester Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) konzentrieren sich beim reichsten Prozent der Bevölkerung mehr als ein Drittel des Gesamtvermögens und beim reichsten Promille immer noch fast ein Viertel. Auf der anderen Seite haben 20 % der Menschen keinerlei finanzielle Rücklagen und 7 % sogar mehr Schulden als Vermögen. Folglich sind mehr als 22 Millionen Menschen, die in Deutschland leben, bloß eine Kündigung oder eine schwere Krankheit von der Armut entfernt.“

Experte zu Fragen der Ökonomie, Politik, Gesellschaft…

Doch zurück zum Buch und zu dessen Autor. Joseph Stiglitz – geboren 1943 – ist Wirtschaftswissenschaftler, der an den Universitäten Yale, Princeton, Oxford und Stanford gelehrt hat, bevor er 1993 als Wirtschaftsberater von Clinton berufen wurde. Anschließend ging er als Chefvolkswirt zur Weltbank und wurde 2001 mit dem Nobelpreis für Wirtschaft zusammen mit zwei anderen Kollegen ausgezeichnet. Er lehrt heute an der Columbia Universität in New York und gilt weltweit als geschätzter Experte zu Fragen über Ökonomie, Politik und Gesellschaft.

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine Sammlung bereits früher an anderer Stelle erschienener Texte. Allerdings werden die bereits publizierten Beiträge mit neugeschriebenen Einführungen zu Beginn der jeweiligen Kapitel in einen aktuellen Bezug gebracht.

Schwerpunktmäßig befasst sich das Buch mit den „Dimensionen“, Ursachen und „ökonomischen Folgen“ der zunehmenden Ungleichheit und mit der Rolle der Politik, die diese Markt – und Machtverhältnisse stabilisiert. Es sind Themen, über die der Autor bereits 1966 in seiner Dissertation nachgedacht hat.
Bereits in der Einleitung zum vorliegenden Band sind die Kernbotschaften des Autors zu erkennen: „Ungleichheit schwächt alles in allem die gesamtwirtschaftliche Leistungskraft einer Gesellschaft“ (S. 24); und auch seine Überzeugung: „Das Ausmaß der Ungleichheit in den USA ist nicht unabänderlich, es ist nicht das Ergebnis unerbittlicher ökonomischer Gesetze. Es ist vielmehr eine Frage politischer Entscheidungen und Prozesse“ (S. 10).

… und für demokratietheoretische Überlegungen

Dass diese Entscheidungen und Prozesse interessengeleitet sind und von Machtverhältnissen beeinflusst werden, kommt zum Ausdruck, wenn Stiglitz die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 kommentiert. Die individuellen Fehlentscheidungen seien auf einen „grundlegenden Fehler zurückzuführen: die Überzeugung, Märkte regulierten sich von selbst und der Staat solle sich weitestgehend aus dem Wirtschaftsleben heraushalten“ (S. 72). Die ökonomischen Krisen und die soziale Umverteilung seien indessen keine Folge des Schicksals oder des Zufalls. Denn der Hauptgrund dafür „besteht darin, dass das oberste 1 Prozent es so haben will“ (S. 123).

Damit berührt Stiglitz auch immer wieder demokratietheoretische Fragen. So auch, wenn er die zunehmende Abhängigkeit der Politik durch Wahlkampfspenden beschreibt. Für ihn ist der Grundsatz verletzt, dass alle Menschen gleiche politische Rechte haben sollen. „Wenn die Reichen mit Ihrem Geld die Presse kontrollieren oder auf Politiker einwirken können (ein vorsichtigeres , aber vielleicht weniger genaues Wort als ‚kaufen‘), dann wird ihre Stimme viel lauter gehört werden. Die Begüterten sind daher zwangsläufig einflussreicher als andere“. Er hält dies für „eine Form der Korruption, die nicht darin besteht, Politikern Umschläge mit Geldscheinen zuzustecken. Sie bedient sich eines genauso unfairen Verfahrens, durch das mit Wahlkampfspenden ‚politische Maßnahmen‘ gekauft werden, was einige wenige sehr reich werden lässt“ (S. 102). 

Man mag einwenden, dass die meisten Beiträge im vorliegenden Band die Entwicklung in den USA beschreiben, doch die Erkenntnisse von Joseph Stiglitz sind natürlich auch für Deutschland hochaktuell. In mehreren Beiträgen können Ursachen und Folgen der wachsenden Ungleicheit auch auf Deutschland übertragen werden: Massenarbeitlosigkeit führt zu Lohndumping, was wachsende Armut und einen anhaltenden Abstieg auch der Mittelschicht zur Folge hat. Gleichzeitig wird Reichtum durch niedrige Besteuerung und durch die Sozialisierung der Verluste beispielweise bei der Rettung der Finanzmärkte geschont.
Er widerspricht der herrschenden – konservativen – Auffassung, wonach die Gesellschaft es sich nicht leisten kann, soziale Gleichheit und Chancengleichheit besser zu fördern. „Ganz im Gegenteil: Unsere Wirtschaft zahlt einen hohen Preis dafür, dass wir dies nicht tun. Die Entscheidungen darüber, wofür wir unser Geld ausgeben, sind politischer Natur – ob für Steuererleichterungen für die Reichen oder für die Bildung der Durchschnittsamerikaner, ob für Waffen, die nichts gegen Feinde ausrichten, die es nicht gibt oder für eine Krankenversicherung für die Einkommensschwachen, ob für Subventionen für reiche Baumwollfarmer oder für Lebensmittelmarken, um den Hunger unter den Armen zu bekämpfen. Wir könnten sogar die Steuereinnahmen einfach dadurch erhöhen, dass wir Unternehmen wie General Electric und Apple die Steuern bezahlen lassen, die sie längst bezahlen sollten“ (S. 106).

Die ideologische Rechtfertigung des Reichtums als angeblicher Voraussetzung für Innovation, wirtschaftliches Wachstum und Arbeitsplätze erfolgt in der Regel durch eine Schar von Wirtschaftswissenschaftlern, die in der augenblicklichen Diskussion den Ton angeben. Sie bagatellisieren nach Stiglitz’ Überzeugung die gesellschaftlichen Gefahren der wachsenden Ungleichheit, und gegen deren Ideologie versucht er anzuschreiben.
„Ungleichheit ist weniger ein Frage des Kapitalismus im 20. Jahrhundert als der Demokratie im 20. Jahrhundert. Wir müssen uns tatsächlich darum sorgen, dass unser Ersatzkapitalismus – der Verluste sozialisiert, während er Gewinne privatisiert – in Verbindung mit unserer unvollkommenen Demokratie – die eher ein System ist, in dem ‚ein Dollar, eine Stimme‘ und nicht ein ‚ein Bürger, eine Stimme‘ gilt (in dem politischer Einfluss also käuflich ist), sowohl im wirtschaftlichen als auch im politischen Bereich Enttäuschung hervorrufen wird“ (S. 119).

Die wachsende Ungleichheit der Gesellschaft in Arm und Reich hat zwangsläufig Neid, Hass und zunehmende Entsolidarisierung zur Folge. All diejenigen, die diese Entwicklung als Bedrohung für unser Gemeinwesen empfinden und die die Zusammenhänge  hierfür vermittelt bekommen möchten und all denjenigen, die nach Argumenten gegen die herrschende Überzeugung suchen, Reichtum der wenigen und Armut der vielen sei unabwendbar, kann dieses eingängig  geschriebene Buch von Joseph Stiglitz sehr empfohlen werden.