Katja Kipping: Wer flüchtet schon freiwillig – Die Verantwortung des Westens oder Warum sich unsere Gesellschaft neu erfinden muss
Es ist noch gar nicht so lange her, dass die Bundeskanzlerin erklärte: „Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“.
Dafür bekam sie überwiegend Zustimmung. Aber nur wenige Wochen später lässt sich heute mit Bedauern feststellen: Das war einmal! Die politische Klasse überbietet sich mit Vorschlägen, bei denen man sich fragt: „Haben die noch alle Tassen im Schrank?“
Wer sich einen fundierten Überblick über die Ursachen der Flüchtlingsproblematik verschaffen will, dem sei das Buch von Katja Kipping empfohlen: „WER FLÜCHTET SCHON FREIWILLIG – Die Verantwortung des Westens oder Warum sich unsere Gesellschaft neu erfinden muss.“
In diesen verwirrenden Zeiten, in denen Völkerrecht und grundgesetzlich garantierte Menschenrechte als jederzeit frei verfügbare Manöveriermasse angesehen werden, ist das Anfang des Jahres erschienene Buch von Katja Kipping so etwas wie der Versuch einer rationalen Positionsbestimmung. Ob allerdings ihre Überlegungen zu einer auch nur minimalen Veränderung führen werden, dies zu hoffen bedarf eines großen Optimismusses.
Ebenso wie die Bundeskanzlerin weist die Bundestagsabgeordnete und Parteivorsitzende der Partei „Die Linke“ darauf hin, dass die Zahl der Flüchtlinge nur auf ein bewältigbares Maß begrenzt werden kann, wenn die Fluchtursachen vor Ort bekämpft werden. Ihre zentrale These lautet, dass die soziale Ungleicheit vor Ort eine wesentliche Fluchtursache ist. Nicht nur mehr Hilfe sei erforderlich, sondern ganz andere. „Wir in Europa tun nicht nur nicht genügend für die Entwicklungshilfe. Immerhin erfüllt Deutschland seit Jahren nicht die Vereinbarung, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in die Entwicklungszusammenarbeit zu investieren. Vielmehr tun Politik und Wirtschaft auch noch das Falsche und sind aktiv beteiligt an sozialen Verwerfungen und der Verelendung ganzer Regionen. Das Schändliche und für Afrikas Entwicklung Schädliche, zum Beispiel die Beteiligung an Land- und Fischraub zu unterlassen, könnte schon mal viel bewirken.“ (S. 26)
Freihandelsabkommen verschärfen den Nord-Süd-Konflikt
Die Flüchtlingsprobleme beginnen nicht an Europas Grenzen, sondern bereits in den Krisenländern. Daran erinnert Katja Kipping. Die Fluchtursachen dort liegen nach ihrer Überzeugung nicht nur an internen Konflikten, sondern auch an der Handelspolitik der westlichen Industriestaaten und hier insbesondere der EU. Die abgeschlossenen Handelsabkommen mit Afrika – Economic Partnership Agreemants (EPA) tragen nach ihrer Auffassung nichts zur Stärkung der afrikanischen Volkswirtschaften bei. Im Gegenteil: Sie verschärfen den bestehenden Nord-Süd-Konflikt, indem sie die strukturellen Abhängigkeitsverhältnisse verfestigen. So schreibt sie:
„Zusammengefasst geht es in den angestrebten Abkommen in erster Linie darum, jegliche bestehenden Schutzzollvereinbarungen abzubauen, um eine vollkommene Liberalisierung der Märkte zu erreichen. So sollen Zölle und Gebühren auf Importe aus der EU abgeschafft werden. Das hat zur Folge, dass Billigprodukte, die in den reichen Ländern hergestellt werden, die regionalen Märkte zum Beispiel in Afrika überschwemmen. Regionale ProduzentInnen haben dadurch große Absatzprobleme und sind von der Pleite bedroht.“ (S. 17)
Ergänzen könnte man: Und die derzeit verhandelten Freihandelsabkommen – TTIP, CETA und TISA – werden die Situation für die Länder der zweiten und dritten Welt noch einmal extrem verschärfen. Besonders die Afrikaner werden durch Handelsschranken vom globalen Wettbewerb ausgeschlossen. Nach Berechnungen von Entwicklungsexperten verlieren die Afrikaner allein durch den Argrarprotektionismus der Amerikaner und Europäer rund 20 Milliarden Dollar pro Jahr an Exporteinnahmen, das Doppelte der Entwicklungshilfe, die nach Afrika fließt.
Die wirkungsvolle Bekämpfung der Fluchtursachen müsste und könnte im übrigen schon heute beginnen, u. a. mit folgenden ersten Schritten (S. 49):
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„Firmen und Banken müsste die Beteiligung an Landgrabbing beziehungsweise Landraub verboten werden. Bestehende Beteiligungen an Firmen und Banken, die für gewaltsame Landkonflikte verantwortlich sind, müssten umgehend beendet werden.
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Den unter der Flagge der EU-Staaten fahrenden Fischerei-Schiffen ist das Fischen vor den Küsten Afrikas zu untersagen.“
Stärkt die Vereinten Nationen.
Wenn Flüchtlingspolitik in den Krisenregionen erfolgreich stattfinden soll, dann ist es nach Auffassung der Autorin notwendig, die Vereinten Nationen zu stärken. Die Vereinten Nationen und die anderen dort tätigen Hilfsorganisationen benötigen für langfristig angelegte Programme Zuwendungen der Geberländer bzw. private Spendengelder. Diese Mittel für Flüchtlingshilfe und Prävention vor Ort sind zu gering, auch weil Hilfszusagen von der EU und auch von Deutschland weit hinter den Zusagen zurückbleiben. Zwar stellt die Bundesregierung ihr Engagemant in Sachen Bekämpfung der Fluchursachen mit dem Hinweis heraus, man habe zur Stabilisierung der Krisenregionen seit 2012 mehr als eine Milliarde Euro bereitgestellt. Das ist aber eher jämmerlich, insgesamt gesehen – wenn man den Zeitraum betrachtet – aber auch im Vergleich zu den Geldern, die allein im Jahr 2015 für die Flüchtlinghilfe in Deutschland benötigt werden.
Ein besonderes Kapitel widmet Katja Kipping der „Reaktion der Herrschenden“ (S. 69 ff.). Wir erleben es täglich: Von Politikern aller Parteien – vom Konservativen Thomas der Maizière, zur prinzipienlosen Frau Klöckner, über den Grünen OB von Tübingen Boris Palmer bis zur Fraktionsvorsitzenden der Partei „Die Linke“ Sarah Wagenknecht – vom Bayern Seehofer gar nicht zu reden – werden Obergrenzen für Flüchtlinge gefordert, die offenkundig gegen die Grundlagen unserer Rechtsordnung verstoßen. Die Eu-Kommission hat unlängst auf diesen von staatlicher Seite geplanten Rechtsbruch hingewiesen.
In der augenblicklichen Stimmung ist keine Platz für kühle Reaktionen und was noch bedenklicher stimmt, Asylrechtsverschärfungen können problemlos durchgesetzt werden – zur Freude der Rassisten. „Flagge für Menschlichkeit zeigen“, sieht anders aus und die rechten AfD-ler reiben sich die Hände.
Grenzzäune sind keine Lösung
Nach Kippings Auffassung werden Grenzzäune oder Zahlungen an den Grenzen das Flüchtlingsproblem nicht lösen, ebenso wenig, wie die unsäglichen Dublin-Abkommen überhaupt etwas zur Problemlösung beigetragen haben. Die Autorin hält auch nichts vom „Rückzug in die nationale Wagenburg oder einer Aufkündigung der europäischen Integration.“ Denn gerade die Flüchtlingsfrage unterstreiche die Notwendigkeit vertiefter transnationaler Zusammenarbeit. Es werde zunehmend deutlich, wie illusionär die Vorstellung sei, „die großen Menschheitsfragen seien heute noch innerhalb des nationalen Tellerrands zu bearbeiten.“ (S. 162/163)
Mit dieser Analyse befindet sich die Autorin im Einklang mit dem UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi. In einem Interview mit der FAZ am 19.2.2016 warnte er davor, nationale Grenzen in Europa zu schließen. Sein vernichtendes Urteil: „Beim Thema Registrierung und Verteilung hat die die europäische Kooperation und Solidarität völlig versagt.“
Gegen Ende des Buches wagt sie – allen Widrigkeiten in diesen irren Zeiten zum Trotz – einen optimistischen Ausblick. Der letzte Sommer, die Solidarität an vielen Stellen im Lande habe gezeigt, was passieren kann, wenn Menschen aus Parteien, Gewerkschaften, Vereinen und Initiativen zusammenkommen, um deutlich zu machen:
„Europa können wir selbst anders machen: solidarisch, demokratisch, grenzenlos. So, wie es ist, bleibt es nicht. Der Krisenkapitalismus gleicht immer mehr einem einstürzenden Altbau, in dessen Gebälk es mit jedme Tag bedrohlicher knirscht. Der Staub rieselt schon herunter. Es ist höchste Zeit, diesen Laden zu verlassen – und eine Skizze, die in Richtung des Notausgangs weist, haben wir bereits in der Hand. Mehr wird es nicht geben. Erst hinter der Tür beginnt der Horizont des Möglichen. Und der Weg dahin entsteht beim Gehen. Worauf warten wir?“ (S.175/176)
Willy Brandt und „Der organisierte Wahnsinn“
Katja Kipping ist Realistin genug zu wissen, dass mit der Formulierung kluger Gedanken noch nicht viel gewonnen ist. Sie wird sich möglicherweise nur schwach an den früheren Bundeskanzler und SPD-Vorsitzenden Willy Brandt erinnern. In seiner Eigenschaft als Vorsitzender der damaligen Nord-Süd-Kommission“ veröffentlichte er 1980 einen Nord-Süd-Bericht : “Das Überleben sichern!” Das Buch fand leider kaum Leser. Genauso erging es seinem nächsten 1985 erschienen Buch mit dem Titel: “Der organisierte Wahnsinn – Wettrüsten und Welthunger”. Ohne Verbesserung der Lebensverhältnisse im armen Teil der Welt, so seine ungehörte Warnung, wird die Welt in Gewalt und Krieg abgleiten! Dazu sei es notwendig, das Kirchtumsdenken und nationales Denken zu überwinden und weltweit zusammenzuarbeiten! Er forderte, die Nord-Süd-Spaltung zu überwinden. Faire Beziehungen seien die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben, ansonsten werde der Konflikt immer mehr Gewalt hervorbringen! Fatal sei, wenn die Menschen in den reichen Ländern von der Ausbeutung billiger Arbeitskraft und der Rohstoffe des armen Teils der Erde profitieren.
Willy Brandt erlebte, dass er in seiner Generation kaum Unterstützung für diese Ideen bekam. Auch in seiner eigenen Partei fand er kaum Gehör. Aber für ihn war klar, dass der materielle Lebensstandard im reichen Teil der Erde sinken werde, wenn die arme Welt nicht mehr ausgebeutet würde.
Es ist also nicht neu, was wir jetzt erleben. Und es ist von vorausdenkenden Politikern wie Willy Brandt schon vor 30 Jahren prognostiziert worden. Keiner kann heute kommen und ernsthaft behaupten, dass alles hat uns überrascht. Auch vor diesem Hintergrund ist die Hoffnung eher blauäugig, dass Katja Kipping mit ihren Überlegungen Mehrheiten gewinnen könnte, obwohl es vernünftig wäre, einen anderen Weg einzuschlagen. Aber was ist vernünftig in diesen Zeiten? Gleichwohl sollten wir die Vorstellung nicht aufgeben, dass es sich anders und besser entwickeln könnte.