Erinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Bodelschwingh und Westerfilde (2)

Heute:

Erinnerungen von Reiner Schmidt (*1935) Schloßstraße, aufgeschrieben von Otto Schmidt im November 2008. ( 1. Teil )

Vorbemerkungen
Im Juni 2009 hat die Gruppe Bodelschwingh-Westerfilde des Heimatvereins Mengede ein kleines Büchlein herausgegeben, das Erinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Bodelschwingh und Westerfilde wiedergibt. Diese Erinnerungen sind in 300 Exemplaren erschienen, bis auf den Archivbestand sind sie inzwischen alle vergriffen.
Da die Texte auch heute noch aktuell sind, haben wir uns entschlossen, in loser Folge und auszugsweise die „Erinnerungen“ nachzudrucken. Wir denken aber auch, mit einer erneuten Veröffentlichung dem Wunsch der damaligen Herausgeber nach einer „lebendigen Weitergabe unserer erlebten Geschichte in Bodelschwingh und Westerfilde“ zu entsprechen. MENGEDE:InTakt! beginnt heute dem ersten Teil der Erinnerungen des heute 81-jährigen und früheren Bodelschwinghers Reiner Schmidt. Einer der damaligen Herausgeber – Otto Schmidt – hat die Betreuung der auszugsweisen Neuauflage übernommen und wird die damaligen Angaben – wenn nötig – durch zusätzliche Informationen ergänzen. (K.N.)
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Reiner Schmidt

Reiner Schmidt erinnert sich:

Zu Beginn des zweiten Weltkrieges war ich viereinhalb Jahre alt. Vor der Evakuierung in Baden war ich öfter bei meiner Tante Maria (geb. Schäfer) in Westerfilde (heute: Volksbank) zu Besuch gewesen. Ihr Mann, mein Onkel Bruno (Richert) ist schon 1942 bei Leningrad gefallen.
Wenn Fliegeralarm war, sind wir durch den Garten über den stinkenden Zechenbach (Ölbach), am Zwangsarbeiterlager vorbei, über den Zechensportplatz zu dem Luftschutzbunker gelaufen (nach dem Krieg Lehrstollen für Bergjungleute). Nach der höchsten Alarmstufe des Bombenalarms war im Bunker alles dunkel (Verdunkelungs-pflicht). Jeder musste auf seine Weise, mit der Angst fertig werden: Ich hörte nur das Klicken der Alu-Stricknadeln. Frauen strickten im Dunkeln Pullover mit Muster.
Oder man hörte Murmeln, auch lautes Beten. Wenn die Bomber kamen, im Bunker oder zu Hause, habe ich immer gebetet: „Hilf Maria, es ist Zeit, Mutter der Barmherzigkeit …“. Das   hat mich so begleitet, dass ich nach dem Krieg, zu meiner eigenen Verwunderung und der meiner Freunde, ohne Murren lange in die Maiandacht gegangen bin.

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Der Bunker an der Wenemarstr. wird mit Bergen (taubem Gestein aus der Grube) überkippt. Hier die Sicht vom Zechensportplatz. Im Hintergrund: Malkowturm (Schacht 1 und Schacht 3). Foto: Unbekannt

Die Evakuierung
Durch die vielen Bombenangriffe und durch abgeworfene Flugblätter der Engländer war 1943 wohl jedem klar, dass er in seiner Heimat nicht mehr sicher war. Berlin und danach das Ruhrgebiet als Waffenschmiede des Reiches waren die Ziele der feindlichen Bomber. Bunker und Luftschutzräume waren schon oder wurden noch gebaut. Andere Gebiete des Reiches galten noch als sicher.

Auch die Kinder aus Bodelschwingh sollten möglichst mit ihren Müttern evakuiert werden. In der Hans Schemm – Schule in Westerfilde wurde von einem Parteigenossen ein Vortrag gehalten, was den Kindern mitgegeben werden sollte. Der Mann stand auf der Innentreppe der Schule. Meine Mutter hatte mich mitgenommen. Immer, wenn eine Anordnung auf „inneren Widerstand“ stieß, die notwendigen Sachen für die Kinder nicht vorhanden waren, riefen die Frauen im Chor: „Haben ein Gewehr und dann schießen“.

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„Ideologische Aufrüstung“ in der Hans Schemm-Schule

Mein Bruder Jürgen und ich fuhren mit der Eisenbahn nach Singen (gehört heute zur Großgemeinde Remchingen) bei Wilferdingen in Baden. Der Ort liegt zwischen Pforzheim und Karlsruhe. Unsere Eltern haben uns bis zu der Gastmutter begleitet. Die Familie hatte einen Kotten; der Mann war Soldat. Im ganzen Ort waren praktisch nur Frauen und wenige, alte Männer. Die Dorfgemeinschaft hatte auf Selbstversorgung und Tauschhandel umgestellt. Alles, was man zum Leben brauchte, wurde selbst erzeugt.
Für die Feldarbeit und den Transport gab es keinen Trecker, kein Pferd. Alles, was bewegt werden musste, wurde von Kühen oder den Frauen und Kindern selbst gezogen.
Wir Kinder saßen jetzt zusätzlich als Esser mit am Tisch. Deshalb mussten wir kräftig mit anpacken und unser Brot verdienen: Feldarbeit, Kleintierversorgung, Botengänge. Die Jugend am Ort war die schwere Arbeit besser gewohnt; von uns „Städtern“ fiel so mancher um.

Der Alltag auf dem Land
Heute ist Kinderarbeit verboten und das ist gut so. In der Evakuierung und auch in der Nachkriegszeit konnte man sehen, was so schwere Arbeit aus Kindern macht.
Schon bei der Ankunft am Bahnhof wurde mir auch als Kind klar, „wo der Hase her lief“: Einige Gastmütter suchten ihre Pflegekinder danach aus, ob sie gut bei der Arbeit mithalten konnten. Sie fühlten die Muskeln ab und ließen sich die Zunge heraus strecken; das war wie auf dem Vieh- oder Sklavenmarkt.

Der Krieg war für unser Gefühl jetzt ein Stück weiter weg. In der Nähe des Ortes lag war eine Bahnlinie, die zur Westfront führte. Hier gab es auch die ersten Westwallbunker. Wir Kinder sind während einer Übung in so einem Bunker gewesen. Die Bunker waren viel größer und besser ausgestattet als bei uns zu Haus.
Mein Bruder Jürgen wurde in Singen eingeschult. Er war immer nur traurig und wollte (und konnte) dem Unterricht nicht folgen. Als Strafe dafür gab es dann Stockschläge in die Hand. Meine Eltern haben uns in der Evakuierung zweimal besucht. Die Lehrerin hat sich über meinen Bruder beschwert. Sie hätte das Elend sehen sollen: Mein Bruder wollte unsere Mutter beim Abschied nicht loslassen. Er wurde praktisch von ihr losgerissen. Wir hatten Nahrung und eine Schlafstelle. Für unsere Seele war vor lauter Plackerei keine Zeit.
Dieses eine Jahr der Evakuierung, so wie ich es heute sehe, ist mitbestimmend für das Lernverhalten meines Bruders in der Jugend gewesen.

Anfang Juni landeten die Alliierten in der Normandie. Damit wurde für uns das Ende der Evakuierung eingeleitet. Durch Mund zu Mund Propaganda verbreitete sich das Wissen um die zurückweichende Westfront. In Singen waren wir nicht mehr sicher. Der Anfang der Evakuierung war organisiert gewesen; das Ende mussten die Eltern selbst bewältigen. Heimlich und ohne Absprache untereinander holten die Eltern ihre Kinder zurück nach Haus. Unsere Eltern machten sich mit zwei Fahrrädern und dem Zug auf den Weg nach Singen.
Am Abend kamen sie bei unserer Pflegemutter an. Dann wurde schnell gepackt und Abschied genommen. Mein Bruder saß bei meiner Mutter auf dem Gepäckträger, ich bei meinem Vater auf einem Kissen vorn auf der Stange. Unsere Habseligkeiten hatten beide in Rucksäcken verstaut. Am nächsten Morgen sind wir am Bahnhof Mengede angekommen und durch den schwarzen Weg nach Haus gefahren. Zu Haus angekommen, sind alle ins Bett gefallen.