Erinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Bodelschwingh und Westerfilde (3)

Heute:

Erinnerungen von Reiner Schmidt (*1935) Schloßstraße, aufgeschrieben von Otto Schmidt
im November 2008 ( 2. Teil )

Vorbemerkungen
Im Juni 2009 hat die Gruppe Bodelschwingh-Westerfilde des Heimatvereins Mengede ein kleines Büchlein herausgegeben, das Erinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Bodelschwingh und Westerfilde wiedergibt. Diese Erinnerungen sind in 300 Exemplaren erschienen, bis auf den Archivbestand sind sie inzwischen alle vergriffen.
Da die Texte auch heute noch aktuell sind, haben wir uns entschlossen, in loser Folge und auszugsweise die „Erinnerungen“ nachzudrucken. Wir denken aber auch, mit einer erneuten Veröffentlichung dem Wunsch der damaligen Herausgeber nach einer „lebendigen Weitergabe unserer erlebten Geschichte in Bodelschwingh und Westerfilde“ zu entsprechen. MENGEDE:InTakt! setzt heute die Erinnerungen des heute 81-jährigen und früheren Bodelschwinghers Reiner Schmidt fort. Einer der damaligen Herausgeber – Otto Schmidt – hat die Betreuung der auszugsweisen Neuauflage übernommen und wird die damaligen Angaben – wenn nötig – durch zusätzliche Informationen ergänzen. (K.N.)
Reiner_Schmidt_2013

Reiner Schmidt

Reiner Schmidt erinnert sich:

Einen Tag später habe ich gesehen, dass die Sauerkirschen im Garten reif waren. Ich bin auf unseren Ziegenstall geklettert und ich hab mir einige schmecken lassen; wir müssen also im Juli wieder zu Haus gewesen sein.
Der versprochene „Endsieg“ rückte immer weiter weg; die Bombardierungen wurden immer schlimmer. Unser Vater hatte im Keller für uns alle Etagenbetten aus Brettern gebaut. So konnten wir bei Fliegeralarm schnell in den daneben liegenden kleinen Luftschutzbunker gehen.

Die Lebensmittel sind knapp, die Kinder müssen mithelfen.
Auch bei uns in der Familie bestimmte die Eigenversorgung, die Sorge um das tägliche Brot den Tagesablauf. Wir hatten Hühner, Kaninchen, eine Ziege und einen Garten.. Der Garten wurde bis zur letzten Krume für Kartoffeln und, wenn noch Platz war, für Gemüse (Kappes) genutzt.
Hühner legen nur Eier, wenn sie etwas zu fressen bekommen: Also wurde auf den Feldern „nachgestoppelt“, an den Wegrändern Gras und Kraut gerupft. Das galt natürlich auch für die Kaninchen und die Ziege. Auf der Straße musste ich Pferdeäpfel aufsammeln. Sie waren Dünger für den Garten. Wenn mein Vater nach Haus kam, hat er alles streng kontrolliert.

Wir hatten entfernte Verwandte in der Mengeder Heide, in der Rittershofer Straße. Die hatten einen kleinen Gärtnereibetrieb und eine Kuh. In der Not erinnert man sich an Verwandte, auch wenn die sich vielleicht wundern. Gesagt haben sie aber nichts. So konnte ich öfter mit der Milchkanne für unsere Zwillinge Rita und Otto Milch aus der Mengeder Heide holen. Onkel Hermann und Tante Trautchen Peickenkamp konnten nicht „Nein“ sagen und dafür habe ich sie immer geachtet!
Auf meinem Weg von Bodelschwingh kam ich über die Siegenstraße in die Mengeder Heide. Um den Weg abzukürzen und Deckung zu haben, bin ich hinter der Emscher auf einem Feldweg am Urnenfeld (Römerzeit) vorbei zur Rittershofer Straße gegangen. Wenn ich mich richtig erinnere, war am Waldessaum, in der Nähe des heutigen Bezirksfriedhofes eine deutsche Batterie mit Geschützen in Stellung gegangen; mit Schussrichtung zum „Bodelschwingher Berg“.
Auch nach Kriegsende bin ich noch zu den Verwandten gegangen und habe Milch geholt (s. u.).

Der Onkel auf Heimaturlaub
Mein Onkel Rolf (Riedasch) war bei der Luftwaffe in Polen, in der Festung Breslau. 1944 kam er auf Heimaturlaub und hat uns besucht. Es war Abends und er konnte nicht zurück fahren nach Dortmund. So hat er mit meinem Vater im Ehebett geschlafen. Ich durfte in der Mitte liegen. Ich sollte schlafen, habe aber nur so „getan“ und dem Gespräch gelauscht. Mein Onkel sagte zu meinem Vater: „Otto, der Krieg ist nicht zu gewinnen. Wenn die Polen und Russen nach hierhin kommen und uns das antun, was wir ihnen angetan haben, dann Gnade uns Gott“. Den Onkel kannte ich auch vorher schon in Ausgehuniform; da sah er gut aus. Jetzt wirkte er irgendwie anders, verändert, grau, einsilbig. Er ist gefallen. Wo, dass wissen wir nicht.

Die Bomber kommen jetzt auch tagsüber
Ab Herbst 1944 gab es häufig Bombenalarm. Jetzt wurde auch tagsüber durch Engländer und Amerikaner bombardiert und geschossen. Zum Ende des Krieges funktionierte der Luftschutz nur noch teilweise. Es blieb einem nichts anderes übrig, als sich irgendwo eine Deckung zu suchen. Ich erinnere mich, dass ich in unserer Straße bei dem Lehrer Schüttler (heute Haumann) auf der Suche nach Löwenzahn war. Der war am Ende des Gartens unter Johannisbeersträuchern gewachsen. Als ich den Zaun hochdrückte, man durfte sich ja nicht erwischen lassen, hörte ich das bekannte Geräusch eines heranfliegenden Jagdbombers (JaBo). Der kam aber nicht, wie sonst von Nord- oder Südwesten, sondern von Osten. Der Pilot flog so tief, dass ich ihn in der Kanzel sehen konnte. Ich lag unter dem Zaun und dachte, dass mein Ende gekommen sei. Geschossen hat er aber nicht und hat in einer Steilkurve nach Nord- Osten beigedreht. Er ist dann noch einmal wiedergekommen. Heute meine ich zu wissen, dass es ein amerikanischer Jagdbomber vom Typ Thunderbolt war, dessen Ziel die Benzolreinigung Hansemann in Mengede war.

Ende Februar 1944 erhielten wir die Nachricht, dass mein Onkel Alfred, der jüngste Bruder meines Vaters, mit 34 Jahren gefallen war. Das war bei Schwarzwasser / Schlesien, heute Strumien in Polen.
Ab Mitte Februar 1945 führten die Alliierten das Ruhrabriegelungsprogramm (Ruhrkessel) durch. Darin war die Zerstörung der gesamten (noch nicht zerstörten) Infrastruktur, Bahnanlagen, Transportwege, Brücken, Industrieanlagen und Städte beschlossen. Die JaBo´s schossen jetzt auf alles, was sich bewegte, so auch auf einen Personenzug, der in Richtung Östrich fuhr. Das Jaulen der Tiefflieger kann ich nicht vergessen.
Die Menschen waren so „fertig“ durch die ständigen Luftangriffe und die vielen Toten, dass sie, auch wenn sie keine Nazis waren, nach „Strohhalmen“ der Hoffnung griffen. So waren Gerüchte im Umlauf, dass der Führer zur Rettung des Ruhrkessels Wunderwaffen einsetzen würde. Es klingt wenig glaubhaft, aber ich meine mich zu erinnern, dass ich am Abendhimmel über dem Münsterland rote Feuerstreifen gesehen habe. Dazu wurde gesagt, dass das Raketen seien, die England in Schutt und Asche legen würden. Heute weiß ich, dass V2-Raketen aus dem Raum des westl. Münsterlandes gestartet worden sind. Das die Startrampen für die Raketen nach der Invasion der Alliierten und deren Vorrücken bis zum Rhein aus Holland zurückgezogen worden waren, wurde nicht erzählt.

Der Zwang zum Jungvolk
Gegen Ende des Krieges sollte ich zum Jungvolk kommen. Ich wollte das aber nicht und meine Eltern auch nicht. So einfach konnten die Eltern aber nicht „Nein“ sagen, ohne sich selbst zu gefährden. Deshalb haben meine Eltern nach Ausreden gesucht, mit mir auch darüber gesprochen. Der Gruppen- oder Hordenführer, ich weiß nicht mehr, wie der genau hieß, kam jedesmal mit seiner Truppe, um mich zur Gruppenstunde abzuholen. Als die Ausreden „verbraucht“ waren, half nur noch eins: Ich war plötzlich krank geworden und lag im Bett, als es wieder klingelte. Der Leiter sollte sich überzeugen, dass ich krank war, wollte das aber nicht. Er zog ab mit den ihm „Anvertrauten“ mit der Bemerkung: „Egal wie: „Wenn Ihr Sohn beim nächsten Mal nicht kommt, gibt es Hordenkeile“. Die sich überstürzenden Kriegsereignisse hatten dann das Problem gelöst.

Das Gesicht, die Fratze des Krieges
Bei der Bombardierung von Westerfilde, ich meine 1945, genau kann ich mich nicht erinnern, hiess es: „Ein Bomber ist im Westerfilder Wald, in der Nähe der Strasse Am Luftschacht abgestürzt (runtergekommen)“. Ich weiss noch, dass die Leute sich gar nicht mehr so sehr über einen abgestürzten Bomber aufgeregt haben.
Zu dieser Zeit waren bei uns Jungen Fletschen sehr beliebt. Um eine gute, weit tragende (feuernde) Fletsche zu bauen, brauchte man eine Astgabel vom Fliederbaum und Gummistreifen aus Naturkautschuk. Die gab es in den ersten Kriegsjahren noch von Fahrrad- oder Motorradschläuchen, aber dann nicht mehr.
Wo ein Flugzeug ist, sind auch Räder und Schläuche. Deshalb sind wir, Werner Pradel(+), Ulli Müller und ich, nach Westerfilde gegangen, um von dem Bomber Fletschengummi zu holen. Als wir in der Nähe der vermuteten Absturzstelle waren, sahen wir einen Bewacher. Wir haben uns so lange versteckt, bis er weg war. Dann sind wir zu dem Bomber hingeschlichen.

Als erstes sah ich einen Flieger, von hinten, in halb sitzender Stellung schräg an einem Baumstamm gelehnt. Auch Reste von dem Flugzeug hatte ich gesehen, die hatten mich dann aber nicht mehr interessiert. Ich hatte noch nie einen toten Feind gesehen. Nur dieser Flieger zog mich in seinen Bann. Beim Näherkommen sah ich, dass er eine Lederjacke mit Pelzkragen trug. Das Gesicht war verbrannt. Die Schädeldecke fehlte. Sie war einfach weg, der Kopf hohl wie eine Kürbisfackel. In der Nähe lag noch ein Flieger. Dessen Körper endete an der Hüfte. Bei ihm waren die Beine weg. Die anderen Flieger lagen bestimmt auch irgendwo. Wir haben uns dann Gummistreifen aus den Schläuchen geschnitten und sind nach Haus geschlichen. Der Schrecken über das Erlebte saß aber noch nicht tief genug; am nächsten Tag sind wir noch einmal hin gegangen. Irgendeiner hatte nicht dicht gehalten, jetzt waren noch mehrere Jungs da und holten sich ebenfalls Fletschengummi.

Ich bin dann noch einmal zu dem Flieger hingegangen. Der lag jetzt auf der Seite auf dem Waldboden. Die Jacke war weg. Eine Hand war verstümmelt. Am Vortag hatte ich gesehen, dass er einen dicken Goldring getragen hatte. Jetzt waren Finger und Ring weg. Meine Eltern, denen ich wohl noch nicht gebeichtet hatte, sind mit mir nach Dr. Pelken gegangen, weil ich in den Nächten dauernd geschrien habe.
Ich hatte die Fratze des Krieges und des Todes gesehen. Als Medizin durfte ich zwei Wochen bei meinen Eltern im Bett, „in der Mitte“, schlafen.
Für meinen Bruder und mich war bis zu diesem Zeitpunkt klar: Wenn wir groß sein würden, würden wir auch Soldaten sein. Unser Onkel Rolf war bei der Luftwaffe gewesen und gefallen. Wir wussten: Soldaten müssen auch sterben. Also wollten wir zur Luftwaffe, und, wenn es so sein sollte, den „schnellen, heißen“ Tod sterben, nicht im Dreck, im Stellungsgraben an der Front, sondern im Flugzeug.
Die toten verstümmelten Flieger im Wald hatten dann unsere Einstellung grundlegend geändert.

Die FLAK in der Nähe vom Güterbahnhof
Parallel zur Straße Im Orde, ganz in der Nähe vom Güterbahnhof Bodelschwingh, etwa auf einer Länge von 200 Metern, war eine deutsche Batterie mit vier Luftabwehrkanonen (Flak-40) auf Eisenbahnwagen in Stellung gegangen. Gesehen habe ich sie nicht, da durfte man sich nicht blicken lassen. Die Kommandos für die Kanonen wurden von der Feuerleitstelle über Lautsprecher gegeben. Das Kommando „Feuer“ mit dem anschließenden „Rumms“ konnte man in ganz Bodelschwingh hören.
Irgendwann waren die Kanonen weg; eine Lokomotive hatte die ganze Batterie abgeholt.

(Wird fortgesetzt)