„Die SPD muss Glaubwürdigkeit zurückgewinnen“

Interview mit Marco Bülow –
Mitglied der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag

Vorbemerkung:
MENGEDE:InTakt! traf sich kürzlich mit dem Bundestagsabgeordneten Marco Bülow, SPD, und hatte Gelegenheit, sich eine knappe Stunde mit ihm zu unterhalten. M. Bülow gehört seit 2002 als direkt gewählter Abgeordneter im Bundestagswahlkreis Dortmund I – zu dem auch der Stadtbezirk Mengede zählt – dem Deutschen Bundestag an.

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Frage:
Herr Bülow, Sie haben kürzlich erklärt: ‚Mein Chef ist nicht der Fraktions- oder Parteivorsitzende und schon gar nicht die Regierungsspitze. Loyalität und Solidarität sind wichtig, aber sie sind keine Einbahnstraße. Mein Chef, der sind Sie, der ist die Bevölkerung.‘
Eigentlich ist das doch selbstverständlich. Warum bedurfte es dieser Klarstellung?

Antwort:
Ich werde immer wieder überrascht angesehen, wenn ich mich so äußere. Nicht nur in der Bevölkerung, auch einige, durchaus ernstzunehmende Medien und selbst KollegInnen im Bundestag haben die im Grundgesetz geregelte Aufgabenteilung nicht mehr im Blick. Sie glauben: Chef sei die Regierung, sie führe die entscheidenden Verhandlungen und der Bundestag habe die Ergebnisse dann – böse gesagt – hauptsächlich nur noch abzunicken. Zu Zeiten eines Herbert Wehner kamen die Regierungsvertreter zu den Fraktionsvorsitzenden um abzuklären, welche Realisierungschancen sie für eine geplante Beschlussvorlage besaßen. Wenn heute eine Regierungsvorlage im Parlament nicht gleich die Mehrheit bekommt, dann wird sofort eine Staatskrise vermutet

Frage:
Es ist nicht zu leugnen: Die Ungleichheit in unserer Gesellschaft wächst, der soziale Frieden ist massiv bedroht. Aber das scheint nur noch wenige zu stören. Stimmen Sie dem zu, und haben Sie bzw. die SPD eine Vorstellung, mit welchen Maßnahmen diese Ungleichheit behoben werden könnte?

Antwort:
Für mich steht das Engagement für mehr Gleichheit und soziale Gerechtigkeit weiterhin im Mittelpunkt meiner Arbeit. Ich möchte auch behaupten, dass dies bei vielen in der SPD ebenso ist – das Thema ist nicht verlorengegangen. Allerdings hat die SPD zu wenig zur Änderung der augenblicklichen Verhältnisse getan, weil sie sich von den neoliberalen Gedanken hat anstecken lassen. Und das auf allen Ebenen: Im Bund, in den Ländern und in vielen Kommunen. Als erstes müsste die SPD nach meiner Überzeugung als Koalitionspartner gerade in einer großen Koalition mehr Profil zeigen und Mut haben, ihre Position gegenüber der CDU/CSU deutlich herauszustellen. Das Stimmungstief, in dem sich die SPD seit einiger Zeit befindet, ist auch ein Ergebnis der Regierungsverantwortung in den letzten Jahren in der Großen Koalition. Große Koalitionen sehe ich per se kritisch. Sie eignen sich meist nur für den Krisenfall. Sie stärken die Randgruppen und Populisten. Eine wirksame Opposition findet nicht mehr statt.

Es bedarf einer „sozialdemokratischen Steuerpolitik“ 

Frage:
Mit der Ungleichheit in der Gesellschaft wächst auch der Frust über eine unsoziale Steuerpolitik. In einem Papier von Ihnen heißt es, dass es wieder einer „sozialdemokratischen Steuerpolitik“ bedürfe. Was ist darunter zu verstehen?

Antwort:
In Deutschland besitzt die untere Hälfte der Bevölkerung 1,4 % des Vermögens, die oberen 10% der Bevölkerung 66% des Vermögens; auch der Anteil der ArbeitnehmerInnen am Volksvermögen sinkt. Die statistisch definierte Mitte der Gesellschaft schrumpft – zwischen 2000 und 2011 ist sie von 58 % auf 50,6 % geschrumpft. Das ist nicht hinnehmbar – dieser Trend muss umgekehrt werden. Unter einer sozialdemokratischen Steuerpolitik verstehe ich

  • eine sozial ausdifferenzierte Einkommenssteuer mit niedrigeren Sätzen für die unteren Einkommensschichten, dafür aber einem höheren Spitzensteuersatz
  • eine Kapitalbesteuerung mit dem persönlichen Einkommenssteuersatz
  • eine Wiedereinführung einer Vermögenssteuer
  • eine Erbschaftssteuer, die Betriebsvermögen so behandelt, dass re-investierte Gewinne berücksichtigt werden, um Arbeitsplätze und Wertschöpfung zu sichern, dem Gleichheitsbehandlungsgrundsatz des Bundesverfassungsgerichts gerecht wird und mindestens 10 Milliarden Euro einbringt. Die Erbschaftssteuer soll übrigens nicht den Familienbetrieb treffen, der über Generationen vererbt wurde,  wie fälschlicherweise häufig angenommen wird. Den gigantischen Betriebsvermögen der Porsches, Quandts, Lidls und Aldis soll ein Solidarbeitrag zugunsten der Gesellschaft abverlangt werden.

Die zusätzlichen Steuereinnahmen könnten u.a. dem Bildungssystem zugeführt werden, denn es bleibt festzustellen, dass die Bildungschancen wieder ungerechter verteilt sind. Kinder ärmerer Bevölkerungsschichten haben nicht mehr denselben Zugang zu den Bildungseinrichtungen wie die der reicheren Familien. Steuersenkungen haben außerdem in der Vergangenheit überwiegend den Reichen genutzt.
Es ist meine feste Überzeugung: Eine solidarische und friedliche Gesellschaft ist nicht kostenlos zu haben. Sie braucht einen gut finanzierten Staat.

Frage:
Christoph Butterwege – Politikwissenschaftler und ehemaliges Mitglied der SPD – stellt in der Wochenzeitschrift „Der Freitag“ vom 4.8. fest, dass mit der wirtschaftlichen Ungleichheit auch die politische Ungleichheit gewachsen sei. Immer mehr Arbeitslose und Arme würden nicht mehr zur Wahl gehen, weil sie überzeugt seien, mit ihrer Stimme nichts bewegen zu können. Die etablierten Parteien kümmerten sich nicht mehr um die die Stimmen der Benachteiligten in der Gesellschaft. Dies würde ausgerechnet jene politischen Kräfte stärken, die an einer Sicherung der Privilegien kapitalkräftiger Interessengruppen bemüht seien.
Können Sie dem zustimmen?

Antwort:
Ja, so ist es, allerdings mit dem notwendigen Hinweis, dass ich aus meiner Arbeit vor Ort mitbekomme, in welch erheblichem Umfang sich Menschen um die Benachteiligten in der Gesellschaft kümmern und zwar parteiunabhängig.

Frage:
Was muss die SPD nach Ihrer Einschätzung tun, um bei der nächsten Wahl zum Bundestag Zustimmungswerte zu erhalten, die über 30 % liegen?

Antwort:
Sie muss auf allen Organisationsebenen klar bekennen, dass in der Vergangenheit Fehler gemacht worden sind, Sie muss diese Fehler analysieren. Allerdings muss sie nicht in „Sack und Asche“ gehen. Sie muss deutlich machen, dass die SPD die Partei der sozialen Gerechtigkeit war und wieder stärker sein will. Sie muss sagen, wo sie welche Prioritäten setzen will und sie muss wissen: Wenn wir derartige Ziele formuliert haben, müssen wir alles daransetzen, diese Ziele auch umzusetzen. Sie muss Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Dann könnte es etwas werden mit „über 30 %“.

Gegen CETA und für ein Lobby-Register

Frage:
Es ist bekannt, dass Sie sich klar gegen die Freihandelsabkommen CETA und TTIP positioniert haben. Lassen wir TTIP heute mal außen vor und beschränken uns auf CETA. Können Sie die für Sie wichtigsten Gründe für Ihre Ablehnung von CETA nennen?

Antwort:
Einem Abkommen, dem jegliche Transparenz fehlt, das an den Parlamenten komplett vorbei vereinbart werden soll, dem kann ich schon grundsätzlichen nicht zustimmen – egal was drin steht. So geht es nicht! Und ich kann nur hoffen, dass der Parteikonvent sich im September dieser Auffassung anschließt.
Damit habe ich noch nichts über die inhaltlichen Probleme gesagt, die ich sehe und die ich an dieser Stelle stichwortartig wie folgt beschreiben will: Gewählte Volksvertreter bleiben ausgeschlossen, aber Großkonzerne sitzen am Verhandlungstisch; Schiedsgerichte erheben sich über unser Justizsystem; erreichte Standards werden verschlechtert statt verbessert. Und für mich ein besonders wichtiger Ablehnungsgrund sind die geplanten Regelungen zur Daseinsvorsorge. Wer sich weiterhin eine soziale Marktwirtschaft mit einer ausgeprägten Daseinsvorsorge wünscht, bei dem sollten alle Alarmglocken klingeln.
Ich möchte nicht, dass sich demnächst kanadische und amerikanische Unternehmer im bisher öffentlichen Bereich der Energieversorgung, der Bildung und der Kultur tummeln und uns erklären, dass sie alles besser und preiswerter anbieten können. Dass dies nicht der Fall ist, haben wir zwischenzeitlich ja bei der kommunalen Energieversorgung hinreichend erlebt. Die Systematik der Freihandelsabkommen folgt der Maxime: Ökonomie bestimmt wie wir leben sollen und nicht wir bestimmen, wie unsere Wirtschaft aussieht. „Sozial“ ist unsere Marktwirtschaft längst nicht mehr. Wer z. B. eine bessere Bildung haben möchte, zahlt dafür. Wer eine bessere Krankenversorgung will, muss dafür mehr Geld aufbringen. Dabei wird das Solidaritätsprinzip, der wichtigste Aspekt von Daseinsvorsorge unberücksichtigt gelassen.

Frage:
Und warum ist die SPD-Führung in dieser Frage so zögerlich?

Antwort:
Das Dilemma der SPD sehe ich darin, dass es versäumt wurde, in dieser Frage rechtzeitig eine klare Linie zu ziehen. Die Partei ist hin- und hergerissen zwischen neoliberalem Wollen und grundsätzlichen sozialen und demokratischen Verfahrensvorstellungen.

Frage:
Sie haben eine klare Haltung zur Einführung eines Lobby-Registers. Warum ist das so bei Ihnen, aber nicht bei vielen Ihrer Kolleginnen im Bundestag.

Antwort:
Die Antwort ist für mich einfach: Ich will die Demokratie stärken, indem ich mich für ein verpflichtendes Lobby-Register einsetze. Durch ein Lobby-Register wird eine öffentliche Kontrolle von politischen Entscheidungsprozessen möglich. Es wird erkennbar, welche Einflussnahme auf staatliche und politische Entscheidungen erfolgt – Lobbyismus wird transparent.
Dass es mehr Transparenz braucht, ist angesichts der zunehmend unübersichtlichen Lage eigentlich unbestritten. Die Öffentlichkeit – die Abgeordneten eingeschlossen – weiß zu wenig darüber, wer in Berlin in wessen Auftrag, mit welchen Mitteln und mit welchem Ziel versucht , politische Entscheidungen zu beeinflussen.

Wenn ich selber nichts zu verheimlichen habe, was mit meinem Job zusammenhängt, dann sollte ich auch keine Bedenken gegen ein Lobby-Register haben. Ich bin der Meinung, die politischen Akteure sollten in dieser Frage mit gutem Beispiel vorangehen. Die meisten meiner Kollegen im Bundestag haben keine nennenswerten Einnahmen durch Nebentätigkeiten. Von daher verstehe ich nicht deren abwehrende Haltung gegen die Offenlegung.

Abschließend zwei spontane Fragen eines 19-jährigen Mengeders, der im 2. Semester an der Uni DO Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studiert und der im Jahr 2017 erstmals für eine Bundestagswahl wahlberechtigt ist:

  • Wie wird die SPD mit dem Brexit umgehen?
  • Das Thema „Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit“ gehörte einmal zur Kernkompetenz der SPD. Heute scheint das niemanden in der Partei mehr zu interessieren. Ist mein Eindruck falsch?

Antwort:
Die erste Frage ist schwer zu beantworten, da die Dinge noch im Fluss sind. Meine Haltung dazu ist folgende: Der Beschluss ist nicht mehr zu ändern und sollte akzeptiert werden. Für einen Übergang benötigen wir klare Regeln und keine Hängepartie. Es ist zu beschreiben, was die EU für uns bedeutet, damit es möglichst keine Nachahmerstaaten gibt. Was wir nicht benötigen, sind Verlautbarungen, dass die EU CETA ohne die Nationalstaaten durchsetzen möchte. Das empfinde ich als undemokratisch.

Zur zweiten Frage kann ich nur meinen persönlichen Eindruck wiedergeben. In der SPD gibt es noch eine Menge Leute, die sich an das Bildungsversprechen der SPD aus den 70-ger Jahren erinnern können und von daher auch über Bildungs- und Chancengleichheit und – Gerechtigkeit nachdenken. Aufstieg durch Bildung hieß damals die Devise. Es wäre falsch anzunehmen, es würde sich keiner mehr für das Thema interessieren. Aber es hat offenbar in der täglichen Diskussion nicht mehr den Stellenwert den, es mal hatte, als Johannes Rau noch Wissenschaftsminister von NRW war. Ich denke, wenn wir von den Ungleichheiten in unserer Gesellschaft sprechen, darf die Forderung nach einer Chancengleichheit nicht nur ein Lippenbekenntnis bleiben. Aber auch in dieser Frage reicht es nicht, Forderungen nur an die Parteioberen zu stellen. Das muss aus der Mitte der Partei und natürlich von der Bevölkerung formuliert werden.

Das Gespräch mit MdB Marco Bülow führten Peter Kaufhold und Klaus Neuvians
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M. Bülow schreibt zu diesem Foto auf seiner Internet-Seite: „Eine große Ehre war für mich die Einladung von Günther Grass, um mit ihm über mein 2010 veröffentlichtes Buch ‚Wir Abnicker‘ zu diskutieren.

Marco Bülow, Mitglied der SPD-Fraktion des Deutschen Bundestages — geboren am 14. Juni 1971 in Dortmund
Nach dem Abitur an der Anne-Frank-Gesamtschule in Dortmund studierte M. Bülow Journalistik, Geschichte und Politikwissenschaft an der TU Dortmund (ohne Abschluss). Marco Bülow ist seit 1992 Mitglied der SPD, gründete 1992 die Juso-Hochschulgruppe neu und war von 1992 bis 1995 Mitglied des Studentenparlaments sowie von 1992 bis 1994 Mitglied im AStA der TU Dortmund, u. a. als stellvertretender Vorsitzender. Von 1992 bis 1999 war M. Bülow Mitglied im Dortmunder Juso-Vorstand, zeitweise auch als Vorsitzender; seit 1996 Mitglied im Dortmunder SPD-Vorstand Dortmund.
Seit 2002 gehört er als direkt gewählter Abgeordneter im Bundestagswahlkreis Dortmund I – zu dem auch der Stadtbezirk Mengede zählt – dem Deutschen Bundestag an. Seine politischen Schwerpunkte sind Transparenz und Lobbyismus sowie Bau- und Umweltpolitik.
Im Jahr 2010 erschien im Econ Verlag, Berlin, sein Buch: „Wir Abnicker. Über Macht und Ohnmacht der Volksvertreter.“
Weitere Infos unter:
www.marco-buelow.de
www.abgeordnetenwatch.de Diese Bundestagsabgeordneten legen ihre Lobbykontakte offen.