„Terror“ im Heinz-Hilpert-Theater

Heinz-Hilpert-Theater Lünen

Heinz-Hilpert-Theater Lünen

Hochkarätiges Theater in Lünen

Darf ein Mensch andere, unschuldige Menschen töten, um dadurch eine wesentlich größere Anzahl zu retten? Gibt es so etwas wie einen „übergesetzlichen Notstand“, in dem er sich über Recht und Gesetz hinwegsetzen darf und nach den eigenen Moralvorstellungen bzw. Gewissensentscheidungen handeln darf?

Mit dem Stück „Terror“ von Ferdinand von Schirach beschäftigte diese Frage am Montagabend Millionen von Fernsehzuschauern und sie beschäftigte am Dienstag auch das Publikum im Heinz-Hilpert-Theater.

Dabei hatten die Ausstrahlung des Fernsehfilms am Vortag und der begleitende Medienrummel der Aufführung im Lüner Theater nicht geschadet. Sie hatten im Gegenteil viele Zuschauer für die Thematik sensibilisiert und die Diskussionen eher bereichert. Wobei die Zuschauer unterschiedlich vorgegangen sind. Die meisten hatten, wie Ehepaar Morch aus Nette, auf die Fernsehfassung verzichtet, um sich unvoreingenommen der Thematik zu stellen. Andere hatten das Stück vor dem Bildschirm verfolgt, um einen Vergleich ziehen zu können. Wieder andere hatten es aufgezeichnet, um später den Vergleich zu ziehen.

Was dem Publikum in der Lüner Aufführung geboten wurde, war hochkarätiges Theater, das seine Spannung aus dem Inhalt des Schauspiels und der Präsentation durch das von der Konzertdirektion Landgraf zusammengestellte Ensemble schöpfte.

Johannes Bandrup als Vorsitzender Richter.

Johannes Bandrup als Vorsitzender Richter.

Einziger Handlungsort war der Saal eines Strafgerichts. Johannes Brandrup spielte den Vorsitzenden Richter überzeugend mit allen Facetten, mal als Verantwortlicher für den geordneten Ablauf im Sinne der Prozessordnung, mal als Technokrat, dann wieder als Abwägenden mit menschlichen Zügen, kurz als Prototyp des Strafrichters. Annett Kruschke war die unbestechliche Staatsanwältin, die allein auf dem Boden des Rechts argumentierte und dabei durch drastische Beispiele ihre Argumentationen untermauerte.

Tina Rottensteiner (li) alsNebenklägerin Fanziska Meiser und Annett Kruschke als Staatsanwältin.

Tina Rottensteiner (li) alsNebenklägerin Fanziska Meiser und Annett Kruschke als Staatsanwältin.

Ihr Schlussplädoyer als eindringlicher Monolog war eine bestechende Leistung, die von vielen Theaterbesuchern höher bewertet wurde, als die der Fernsehdarstellerin Martina Gedeck am Vortag. Ihr Gegenpol war Christoph Schlemmer als Verteidiger, als Parteiischer für den Angeklagten, moralisch argumentierend, an Emotionen appellierend und dabei rhetorische Kniffe einsetzend.

Erschütternd war das Auftreten von Tina Rottensteiner als Nebenklägerin, die die Gefühle der Ehefrau eines Geopferten dem Publikum näherbrachte. Peter Donath als Vorgesetzter des Angeklagten brachte überzeugend rüber, wie die eigentlichen Entscheidungsträger sich aus der Verantwortung gestohlen hatten. Denn es hätte ja eventuell das Stadion geräumt werden können, vielleicht hatten sie sogar innerlich gehofft, dass der Angeklagte sich über den Nichtabschussbefehl hinwegsetzte.

Angeklagter Major Lars Koch (Christian Maye links) und sein Verteidiger Biegler (Christoph Schlemmer).

Angeklagter Major Lars Koch (Christian Maye rechts) und sein Verteidiger Biegler (Christoph Schlemmer).

Brillant war Christian Meyer als angeklagter Kampfflieger Lars Koch, der zu seiner Entscheidung stand, egal, ob er Schuld auf sich geladen hatte oder nicht und dabei nicht um Verständnis buhlte. Er war der Elitesoldat der Bundeswehr, der alle Lehrgänge mit sehr gut bestanden hatte und der sich nach Abwägen und eigenen Wertvorstellungen bewusst für den Abschuss und das Töten von 164 unbeteiligten Passagieren entschieden hatte, um 70.000 zu retten.

Eine entscheidende Rolle kam auch hier den Zuschauern zu. Sie bestimmten in diesem interaktiven Theaterstück den Urteilsspruch und damit den Ausgang der Handlung. Selten wurde in der Pause so intensiv und auch kontrovers diskutiert, selten war der Geräuschpegel im Foyer so hoch, wie an diesem Abend. 246 (69%) stimmten für „nicht schuldig“, 112 für „schuldig“. Damit war die Freispruchquote deutlich niedriger als bei der Fernsehabstimmung (87%).

„Ich habe mich eindeutig für nicht schuldig entschieden“, meinte Zuschauer Friedhelm Höhner aus Lünen, „man soll Prinzipien, auch wenn sie in der Verfassung festgelegt sind, nicht totreiten. Auch sie wurden ja nur von Menschen gemacht.“ Hans-Jürgen und Gisela Morch aus Nette fällten gegensätzliche Urteile und gingen durch unterschiedliche Abstimmungstüren. Der ehemalige Regierungspräsident und NRW Staatsminister a.D. Wolfram Kuschke hatte sich während der Aufführung umentschieden und für „schuldig“ plädiert: „Man darf Menschenleben nicht gegen Menschenleben aufrechnen. Wo soll man die Grenze setzen? Das Prinzip „Schutz der Menschenwürde“ darf nicht angekratzt werden. Das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht haben hier unverrückbare Maßstäbe festgelegt.“

Jussi Adler-Olsen (Mitte) im Gespräch mit den Schauspielern Annett Kruschke und Johannes Brandrup.

Jussi Adler-Olsen (Mitte) im Gespräch mit den Schauspielern Annett Kruschke und Johannes Brandrup.

Als Gast verfolgte auch der dänische Bestseller-Autor Jussi Adler Olsen die Vorstellung in Lünen. An die Schauspieler gewandt, bedankte er sich im Anschluss daran für den wundervollen Abend: „Das Stück war phantastisch, ich habe es genossen.“
Er gehörte zu der Minderheit, die für „schuldig“ plädiert hat. „Der Angeklagte hat eindeutig gegen Recht und Gesetz verstoßen. Jedes Zivilgericht muss ihn deshalb verurteilen, aber auch jedes Militärgericht wegen Ignorierung eindeutiger Befehle“. Per Videobotschaft grüßte er zum Schluss noch mit „Hello Ferdinand“ seinen Autorenkollegen von Schirach.

Einigkeit herrschte bei der Bewertung der Aufführung: „Der Abend hat mir gezeigt, wie spannend Theater auch für junge Leute sein kann“, meinte Teresa Kleine-Frauns. Und Gerlinde Wittler, seit 1958 Stammgast in Reihe 3 Platz 9, urteilte: „Das war ein ganz großes Theaterereignis.“