Peter Grohmann – Alles Lüge außer ich *

Kapitel II – Ostzone, Westzone – Rübermachen.38397145z

Große und kleine Fluchten
1947 bis 1957

 Heute: Denkzettel 2 und 3

Denkzettel 2

Zwiefalten war eine einzige Enttäuschung. Kein Bahnhof. Aber ein katholisches Münster. Weit und breit keine Bananen. Stattdessen zu viert in einem Zimmer.
Nebenan die Verrückten der Heil- und Pflegeanstalt.

Die Kinder des Dorfes durften nicht mit den Schmuddelkindern aus der Ostzone spielen. Die konnten alles, nur kein Schwäbisch. Die hatten ein Stück von der Welt gesehen. Die waren Flüchtlinge und die Eltern Sozialdemokraten. Die waren nicht getauft. Das war fast so schlimm wie evangelisch.
»Wenn die Schule aus war, trieben se sich auf den Feldern herum. Wenigstens warn se draußen. Und die kam’ immer ganz meschugge zurück, wenn se mit die Verrückten gespielt hatten, ham die halbe Nacht rumgefantert«, erzählte die Mutter.

Die Aufpasser sahen das nicht gern. Man traute den Kranken noch weniger über den Weg als den Flüchtlingen. »Wenn de mit die noch mal spielst, gibt‘s was auf die Gusche!«, drohte mir die Mutter, und der Vater warnte: »Die sind gefährlich, wie ich gehört hab …«

Am 2. April 1940 fuhren die ersten grauen Busse in Zwiefalten vor – am hellen Tag. Allein in diesem einen Jahr wurden 1673 Menschen mit Handicap – »portionsweise« im grauen Bus – nach Grafeneck, fast ein Nachbardorf von
Zwiefalten, verlegt und ermordet.
»Kriagscht a Spritzn, na bischt hin«, tröstete die Zwiefalter Ärztin Dr. Fauser ihre Patienten. Die meisten Ärzte, Nazi-Richter, Staatsanwälte, Ministerialbüro- kraten, die Angestellten der Gesundheitsämter, die an den Ermordungen der Kranken und Behinderten beteiligt waren, taten nach 1945 weiter ihren Dienst wie eh und je.

In vielen Anstalten herrschte eine – na, wie soll ich sagen? – gewisse Resignation. Wegen des Kriegsendes konnten verständlicherweise viele der zur Ermordung vorgesehenen Kranken nicht mehr »weggebracht« werden. Und nun, ausgerechnet in den Monaten der unmittelbaren Niederlage, wo es wirklich an allem mangelte, in erster Linie an Nahrungsmitteln, waren es letztlich doch unnütze Esser, irgendwie – mag man gedacht haben. Unnütze Esser, die übrig geblieben waren. Kurzum – nach dem Krieg verhungerten in Deutschlands Verrücktenanstalten noch mal ein paar tausend Menschen. Das ging selbst den Besatzungsmächten zu weit – sie griffen ein und setzen durch, dass die davongekommenen Kranken die gleichen Essensrationen bekamen wie die davongekommenen Mörder. Ich weiß, ich weiß, ein eher unangenehmes Thema.

Von Grafeneck aus haben wir vom 13. bis 16. Oktober 2009 eine zehn Zentimeter breite und 70 Kilometer lange violette Farbspur gezogen – von Grafeneck, dem Ort, an dem mehr als 10 000 kranke und behinderte Menschen ermordet wurden, zum Ort der Täter, dem Stuttgarter Innenministerium am Karlsplatz. Die Presse wurde über unsere Motive und die Hintergründe unterrichtet, über die Geschichte, über das Leid. Kein gutes Thema, sage ich mal. Wir hätten die Pressekonferenz natürlich an einem zentraleren Ort machen können, einem Ort, an dem seinerzeit mit schwäbisch-preußischer Knitzheit mitgeplant wurde – dem Rathaus. Nach einer ganzen Reihe von Telefonaten winkte man ab – die Stadt hat mit der Spur der Erinnerung »im Grunde genommen« nichts zu tun. Und einen Raum für Pressekonferenzen im Rathaus könne man nur bekommen, wenn man sozusagen in das Vorhaben eingebunden sei – wie mit dem Automobilsalon, Herr Grohmann, oder mit dem Fischmarkt. Verstehen Sie das nicht falsch, Herr Grohmann, aber da könnte ja dann jeder kommen …

Denkzettel 3

Ich hatte eben mal, immer der Älteste, die sechste und siebente Klasse gestreift, Katholische Volksschule für Jungen und Mädchen in Zwiefalten, am Fuße der Schwäbischen Alb, immerhin noch Südwürttemberg-Hohenzollern. 40 bis 45 Kinder in einer Klasse, immer zwei Jahrgänge zusammen. Lehrermangel.

Die Schule lag zwischen katholischem Pfarramt und Zwiefalter Kloster, keine Mönche mehr, gut eingebettet also, und die Klosterbrauerei gleich daneben und frische Forellen aus der Aach und das Kruzifix an der Wand und Morgengebet und Aussonderung der Entarteten: Das waren jetzt die Evangelischen, die durften nur hinter dem Zwiefalter Münster ihrem Glauben frönen, gleich neben den Verrückten. Man kannte sie, man konnte sie an einer Hand abzählen, wie die Heiden und die SPD-Wähler, und wenn man sie nicht kannte, sagte es einem der Bürgermeister oder der Herr Pfarrer.

Er war ein freundlicher Herr, der Herr Pfarrer, durchaus rüstig. Und wenn wir im Sommer in den Ferien oder nach der Schule baden gehen wollten, mussten wir sieben Kilometer nach Zwiefaltendorf radeln, da floss die Donau vorbei, was mir vollkommen unerklärlich war, erstens an diesem Ort, zweitens, wo sie herkam.
Von wegen Radeln – wer hatte schon ein Fahrrad? Das war gewissermaßen ein Luxusgut. Noch mehr Luxus hatte nur unser Nachbar, der Herr Dr. Stegmann: Er fuhr einen Opel P4. Der Eugen also, Menschen- und Tierarzt, nicht der böse Bruder aus der Irrenanstalt, der Eugen also, der neben unserem Armenhäusle mit Außenklo seine Praxis hatte (nein, nicht er, wir hatten das Außenklo). Er ist mir in bester Erinnerung.

Die Mutter: »Wenn der beschickert war, nu ja, da könnt ich Ihnen Sachen erzähln, die gehn auf keene Kuhhaut! Wissen Se was? Hin und wieder kamen welche, die wollten nur mit dem saufen! Wenn er beschickert war, also nee, wirklich, dann ging er mit seinen Patienten wie mit de Tieren um, liebevoll und nachsichtig. Der soff sich mit meinem Manne fast zu Tode, wenn ich’s Ihnen sage!«

In der Schule war’s mir eher schwer. Einen Flüchtling wollte niemand als Nebensitzer. Das war vielleicht ein Hin und Her, auch bei Schulwanderungen. Da wurden Dreier- oder Vierergruppen gebildet. Jede Gruppe hatte ein handtellergroßes Esbit-Kocherle. Topf drauf, Wasser aus dem Bach rein, ein bis zwei Maggiwürfel, Sauerampfer dazu, fertig. Ich blieb immer übrig. Abgesehen davon – einen Topf hätte ich von zu Hause sowieso nicht mitnehmen dürfen. Wir hatten nur einen. Ich würd ja heut auch nicht unbedingt mit dem Sohn eines Sozialdemokraten mein Süppchen kochen. Die SPD erhielt in Zwiefalten viele Jahre lang nur die Stimmen unserer Familie.

Aber der liebe Gott sieht alles, sogar in Zwiefalten. Nur in die finsteren Ecken des Klosters sah niemand. In eine dieser Ecken haben die Jungs aus meiner Klasse auch den Ulli Thiel getrieben. Immer, wenn wir den Ulli Thiel trieben, durfte ich auch mitmachen, da war ich nicht ausgesondert, nein, ich war gewissermaßen vorne dran, vielleicht schon Anstifter.

Irgendwann mal in den Sechzigerjahren rief ich, schon in Stuttgart wohnend, bei der ÖTV an, da hatte ich den Ulli in der Leitung.
»Peter Grohmann?«, fragte er. »Der aus Zwiefalten?«
Klar – ich! Also, er war mein Klassenkamerad, Flüchtling oder Heimatvertriebener oder was weiß ich, vermutlich evangelisch. Uns zwei nannten die Jungs hinter halbwegs vorgehaltener Hand »die Missgeburten«. Ich nahm’s nicht unbedingt krumm, jedenfalls heulte ich nicht wie mein Bruder, der ja auch eine Missgeburt war und sich aus Verzweiflung über diese und andere Hänseleien taufen ließ – evangelisch, aus Rache. Ich denke, auch die Bezeichnung Missgeburt ist eine Form der Beachtung – du wirst jedenfalls nicht vollkommen ignoriert, geschnitten, du kannst sogar mit leichtem Mund zurückgeben: »Selber Missgeburt!«

Dabei muss man wissen, dass die Dörfler in dieser Phase der Nachkriegszeit ja überall prinzipiell wieder ein relativ gutes Verhältnis zu ihren Missgeburten hatten, ob es nun Krummgewachsene oder Kleinwüchsige oder am Kopf oder Fuß beschädigte Menschen waren. Für sie gab’s, wie für meine Omi aus Sachsen in ihren jungen Jahren, immer einen warmen Platz im Stall oder Schuppen und eine Decke für die Nacht und einen Kanten Brot und sommers einen Krug Most. Ein Plätzle. Wo man drhoim war, wo mr na g’hörte, ha no! Vergelt’s Gott.

Und dafür musste tüchtig geschafft werden, geschrubbt und gemistet und die Pferde gestriegelt und den Saustall gesäubert und der Hof gekehrt und das Holz gehackt und gestapelt und die Jauchegrube geleert. Wer bitte sollte das denn sonst machen?
Ja, ich höre? Der Pole, der Zwangsarbeiter? War ja abgehauen 1945, in seiner Undankbarkeit. Hatte vielleicht noch die Magd geschwängert und sitzenlassen. Der neue Pole kam erst 40 Jahre später, in den Achtziger-, Neunzigerjahren: Stallburschen, Erntehelfer, Spargelstecher. Und Pflegerinnen, die alle Maria heißen und die Scheiße wegmachen, weil wir uns zu fein dafür sind. So ist auch der Pole zu etwas nütze.

Zurück zum Freunde Ulli Thiel, der mich auf dem richtigen Fuß am Telefon erwischte. Ich konnte mich nämlich nicht an ihn erinnern. »Na, du! Waohrschd ja ooch n ganz Schlimmer«, meinte er gutmütig.
»Hä?«
Und dann gab er gut gelaunt seine Story aus Kinder- und Jugendtagen zum Besten. Wir hätten ihn, den Ulli Thiel, öfters mal nach dem Schulunterricht abgepasst und hinters Münster getrieben, in eine stille Ecke, in die der liebe Gott nicht reinsehen konnte. Umringt hätten wir ihn, zu sechst, zu acht, die Jungs aus der Klasse, und gefordert: »Zeig’s!« Mit Nachdruck. »Und wenn nicht?«, mag er lauernd gesagt haben. »Na gibt’s aufs Maul!« – »Aber meine Mutter hat’s verboten!« – »Sagscht ihr halt nix, du Duppeler!«
Jetzt erinnerte ich mich: Er hatte ein Glasauge, ein Kriegsschaden, und mit dem anderen sah er auch schlecht.

Das wollten wir sehen, das Glasauge. Dicht umringt, musste er es herauspulen aus der Augenhöhle. Er hielt es zunächst in der fest geschlossenen Hand, sah sich erwartungsvoll um im Kreis seines Publikums wie ein Zauberkünstler – die Spannung stieg –, um dann langsam, unendlich langsam die zur Faust geballte Hand zu öffnen: Da lag es, ein unscheinbares Ding, kirschengroß, aber eben nicht rund. Und nun genoss er seine Rolle, weil sich alle vordrängen wollten, der erste Kuss, der erste Blick, ein Schauer lief uns über den Rücken.
»Der Reihe nach«, befahl er, jetzt hatte er das Kommando, und alles gehorchte. Wir stellten uns an, und jeder durfte mal. Nur ich, ich sah unentwegt auf seine Augen: Nur faltige Haut, ein wenig nach innen gefallen, kein Loch. Das beschäftigte mich.

Als alle fertig waren mit Gucken, inszenierte und genoss er die folgende Implantation auch jetzt wieder: Sorgsam, langsam steckte er das Augenglas in die Augenhöhle. Dann öffnete sich der Kreis – er durfte gehen. Bekam ein »Und wehe!!!« hinterhergerufen.
»Nein, ich sag’s niemand.« Er hatte ja eh niemanden außer seiner Mutter.
»Tja«, sagte mein Schulkamerad, »wie das Leben so läuft!« Er sei jetzt ganz blind, komplett, aber es sei gut zu arbeiten bei der ÖTV. Und er freue sich immer auf einen Schwatz mit mir.

Ich habe den Blinden aus den Augen verloren.

* Peter Grohmann – Jahrgang 1937 – , Kabarettist und Schriftsteller, Kämpfer gegen Obrigkeitsglauben, Gehorsam und Standesdünkel hat seine Lebenserinnerungen niedergeschrieben und 2013 veröffentlicht. Das Buch umfasst auf 320 Seiten acht Kapitel. Jedes Kapitel erinnert mit „Denkzetteln“ an deutsche Geschichte – im jeweils 10-jährigem Rhythmus – eine Mischung aus Persönlichem und Politischen und meist aus beidem zugleich.
Wir setzen heute den Abdruck mit zwei „Denkzetteln“ aus dem Kapitel II Ostzone, Westzone – Rübermachen. Große und kleine Fluchten.1947 bis 1957.
MENGEDE:InTakt! wird in den nächsten Wochen weitere Auszüge aus dieser Biographie abdrucken und bedankt sich beim Autor für die großmütige Erlaubnis. „Eine kurzweilige und vergnügliche Lektüre, bei der einem mitunter durchaus das Lachen im Halse stecken bleiben kann“. (Klappentext der Biographie))