Norbert Lammert zur Bedeutung des Theaters
in unserer Gesellschaft
Viele haben ihn schon als nächsten Bundespräsidenten gehandelt. Bis er erklärte, er habe dazu keine Ambitionen, und er wolle sich aus dem politischen Tagesgeschäft zurückziehen. Am vergangenen Donnerstag war Bundestagspräsident Norbert Lammert Gast in unserer Nachbarstadt Lünen.
Der dortige Theaterfördervereins hatte anlässlich seines 10-jährigen Jubiläums den rangmäßig zweiten Mann in unserem Staate eingeladen, um von ihm seine Einschätzung über die Bedeutung des Theaters in unserer Gesellschaft zu hören. Dazu stellte er sich den Fragen des Schauspielers und Vereinsvorsitzenden Jürgen Larys und des aus etwa 200 Personen bestehenden Auditoriums.
Und wieder nahm der Mann der klaren Worte kein Blatt vor den Mund.
„Als wir vor einige Jahren die Entscheidung treffen mussten, ob wir die von Finanzakrobaten verursachte Krise mit Steuermitteln bekämpfen sollten, kamen wir nach schwieriger Abwägung zu der Entscheidung, Banken sind systemimmanent. Wir haben uns entschlossen, sie zu stützen, weil der Schaden ohne diese Maßnahmen ungemein größer gewesen wäre.“
Beim Theater sei die Frage einfacher zu beantworten: „Das Theater ist systemimmanent. Es ist nicht ein Ornament, sondern ein Fundament in unserer Gesellschaft.“
In Deutschland gibt es 142 öffentlich geförderte und 220 private Theater, das sei eine einmalige Struktur in der Welt, denn selbst bei unseren europäischen Nachbarn entdecke man eine Konzentration auf die Hauptstädte, während die Theaterlandschaft im übrigen Staatsgebiet dünn besiedelt sei. Diese vorbildliche Struktur müsse in Deutschland erhalten bleiben, dafür seien auch jährliche Zuschüsse von 2 bis 2,5 Milliarden € nicht zu viel.
Auch das häufig angeführte Argument, dass nur gut 10% der Bevölkerung das Theaterangebot nutzen, sei für ihn nicht überzeugend. „Das ist ein Beispiel, wie irreführend Statistik sein kann. Überlegen Sie mal, wieviel Prozent der Gesamtbevölkerung einen Kindergartenplatz nutzen, wieviel Prozent die Schulen oder die Universität besuchen, wieviel die Prozent die Dienste der Polizei in Anspruch nehmen. Da fordert auch niemand ernsthaft, die Finanzierung zu reduzieren“. Nach einem fragenden Impuls von Jürgen Larys geht Lammert auch auf die Qualität der Theaterangebote ein. Seiner Meinung nach dürfe es nicht sein, dass das Angebot mehr und mehr verflache und dort ein Trend zur Selbstbanalisierung entstehe. Aber auch das andere Extrem hält er für gefährlich. „Es kann nicht sein, dass aus elitärer Arroganz manche Regisseure erst mit ihrer Arbeit zufrieden sind, wenn es kein anderer versteht außer ihnen.“
Auf die Frage, ob man einem Beschäftigten nach einem stressigen Arbeitstag und der Konfrontation mit den Problemen unserer Zeit noch problembeladene Stücke oder Klassiker zumuten sollte, dass sie viel zu müde seien für anspruchsvolle Formate, meint er, dass sich manche Rezipienten in ihrer Freizeit ja auch furchterregende Horrorfilme ansehen, ohne dass ihre Nerven Schaden nähmen. Er nennt den jahrzehntelangen Erfolg der Ruhrfestspiele als Beispiel dafür, dass auch die arbeitende Bevölkerung bereit sei, sich mit Klassikern und Problemstücken auseinander zu setzen. „Die Klassiker sind immer wieder auf den Spielplänen zu finden, während manche neue Stücke schon nach ein bis zwei Spielzeiten wieder verschwinden.“ Ganz im Sinne von Kurt Tucholsky behauptet er, man dürfe dem Publikum ruhig Anspruchsvolles zumuten, man müsse es nur machen. Auch soll man nicht immer nur klagen. „Wir haben eine Begabung, uns ständig Leid zu tun.“ Im Bereich des Theaters dürfe man nicht zu sehr auf Rentabilität und Einnahmen schauen. „Das, was wir auf dem Kunstmarkt an finanziellen Spekulationen erleben, ist grotesk und hat mit Kunst nichts mehr zu tun. So etwas darf beim Theater nie geschehen.“
Lammert ließ sich nach jeder Frage Zeit, dachte nach, und gab dann Antworten, die druckreif waren und manchmal auch als geflügelte Worte durchgehen konnten. Bei einer Frage aus dem Zuhörerraum musste er besonders lange nachdenken: „Wo sehen Sie die Grenzen der Freiheit der Kunst?“ Seine Antwort: „Am liebsten möchte ich sagen, es gibt überhaupt keine Grenzen, aber das geht ja auch nicht.“ Er verwies auf unser Grundgesetz, das Grenzen aufzeigt, die allerdings fließend seien. „Notfalls läuft es immer wieder zu auf eine Einzelfallprüfung aus. Allerdings da, wo zu Gewalt und Hass aufgefordert wird, sehe ich schon Grenzen.“ Zum Schluss vertrat er noch einmal seine nicht unumstrittene Sicht der Leitkultur. „Es gibt keinen Zusammenhalt ohne Kultur. Ohne ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit erträgt eine Gesellschaft die Vielfalt nicht. Daher sind auch grundsätzliche Verbindlichkeiten von allen zu akzeptieren.“
Für Lammerts Ausführungen gab es immer wieder Zwischenapplaus und einen lang anhaltenden Schlussbeifall, sowohl vom „Durchschnittspublikum“, von den Honoratioren und auch von den anwesenden Politikern anderer Parteien. Dem Vorsitzenden des Theatervereins Jürgen Larys wurde von allen Seiten für diese niveauvolle und inhaltsreiche Jubiläumsveranstaltung gedankt.