„Meine Erlebnisse als Bergarbeiter im Ruhrgebiet“

Lesung in der „Buchhandlung am Amtshaus“

An die Ära des Ruhrbergbaus, die in diesem Jahr endgültig zu Ende geht, erinnerte eine Lesung in der Buchhandlung „Am Amtshaus“ am vergangenen Donnerstag. Der WAZ-Kulturredakteur Lars von der Gönna und der Bottroper Verleger Werner Boschmann lasen aus den Erinnerungen von Graf Alexander Stenbock-Fermor „Meine Erlebnisse als Bergarbeiter im Ruhrgebiet“.

Der baltische Adelige arbeitete vom 16. November 1922 bis zum 20. Dezember 1923 unter Tage auf Schacht 4 der Zeche Friedrich Thyssen in Duisburg-Hamborn. Der Autor hatte sich vorgenommen, seine Eindrücke als fremder Arbeiter im Bergbau rücksichtslos, wahrheitsgetreu und ohne Schnörkel zu schildern. Und genauso erreichten sie auch das Publikum in der vollbesetzten Buchhandlung.

Schon als von der Gönna die ersten Sätze vorlas, setzte sich der „Film im Kopf“ der Zuhörer in Bewegung, die übrigens zu fast 90 % Zuhörerinnen waren. Das lag zum einen an Gönnas prononcierter Aussprache, daran, dass er die Betonungen an die richtigen Stellen setzte und Qualitäten eines geschulten Schauspielers zeigte. Das lag zum andern auch an der eindrucksvollen Beschreibung des Buchautors, die den LeserInnen bzw. in diesem Fall die ZuhörerInnen live am jeweiligen Ort des Geschehen dabei sein ließ und die Spannung eines Abenteuerbuches vorwies. Obwohl vor 90 Jahren geschrieben, schienen die Schilderungen in der Sprache der heutigen Zeit verfasst zu sein.

Da erlebten die ZuhörerInnen den ersten Arbeitstag des adligen Bergarbeiters. Der begann mit dem unsanften Wecken mit einem Knüppelschlag an die Zimmertür im Ledigenheim um halb fünf in der Frühe, mit dem halbherzigen Waschen der Kameraden, weil man bei der Schicht eh wieder dreckig wird, mit dem Trinken des furchtbar schmeckenden Kaffees, der von allen nur als „Negerschweiß“ bezeichnet wurde, was alles über seine Geschmacksausrichtung aussagte. Dann der Empfang der Blechmarke am Zechentor, mit der Graf Stenbock zur Nr. 2048 wurde. Dann die die Sinne betäubende Fahrt mit dem Förderkorb, der mit der Geschwindigkeit von 8 m pro Sekunde in die Tiefe zur 5. Sohle sauste, der Weg durch den dunklen Schacht mit schattenhaften Ratten und dem entgegenkommenden polternden Förderzug bis zum Arbeitsplatz von Schießmeister Karl, der den Neuen in seine Arbeit einwies.

Das Publikum erlebte, wie der Neuling anfangs kaum die Schüppe hochkriegte, wie Karl ihm eine einfachere Technik zeigte. Hunger, scheußlicher Durst, schweißtreibende Hitze, schmerzende Glieder, Erschöpfung, all das bekamen die ZuhörerInnen hautnah mit. Auch politische Diskussionen, bei denen die Meinungen von Proletarier und verarmten Juker aufeinanderprallten. Das erlösende Schichtende, das Abgeben der Marke, und dann der Duschprozess in der Kaue, bei dem die schwarzen Gestalten, bei denen man nur noch das Weiße der Augen sehen konnte, wieder das Aussehen normaler Menschen annahmen. Immer wieder tauchten Worte auf, die in einigen Jahren wahrscheinlich vergessen sein werden: Förderkapsel, Gezähe, Speckdeckel, Hängebank, Steiger, Buckeln, Schießdraht.

Zwischen den einzelnen Abschnitten referierte Boschmann über die Person Stenbock-Fermor, der in seinem Leben eine ideologische Umkehr erlebte. Während er im zitierten Buch noch die Ansichten des adligen Junkers vertrat und politisch eher rechts von der Mitte einzuordnen war, tendierte er, geprägt durch seine gewonnenen Einsichten im Ruhrgebiet, später nach links und wurde als „roter Graf“ bezeichnet. Boschmann erläuterte auch seine Motive, das Buch von 1928 im Jahre 2017 wieder neu aufzulegen: „Es ist einfach ein herausragendes Werk der Ruhrgebietsliteratur.“

Im abschließenden Publikumsgespräch berichteten ZuhörerInnen aus ihren eigenen Erfahrungen im Bergbau bzw. von Schilderungen der Väter bzw. Großväter aus deren Bergbauzeit. „Das war eine eindrucksvolle und spannende Veranstaltung“ war mehrfach aus dem Publikumskreis zu hören.

Zusätzliche Info:

  • Die „Buchhandlung am Amtshaus“ bereichert die Kultur im Stadtbezirk mit regelmäßigen Lesungen.
  • Den Imbiss in der Pause, der aus warmen mit unterschiedlichen Füllungen versehenen Pizzabrötchen bestand, spendierte Salvatore del Sorbo von der gegenüberliegenden Pizzeria „Da Salvatore“. 

  • Der Reinerlös der Veranstaltung fließt dem Mutter-Kind-Haus St.Anna in Nette zu. In ihm bekommen alleinstehende, oft noch minderjährige Mütter in schwierigen Situationen Lebenshilfen.

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