Pferdewechsel – Eine Kolumne von Peter Grohmann

Pferdewechsel

Eine Kolumne von Peter Großmann
KONTEXT:Wochenzeitung vom 31.10.2018

Als die Post noch funktionierte, brauchte eine Sendung von Innsbruck ins holländische Mechelen fünf Tage. Okay, das war 1505. Die Postreiter waren natürlich längst nicht so kaputt wie der Briefträger heute. Das lag am Pferdewechsel: alle 15 Kilometer, wenn es sein musste. Alles sehr gut organisiert, effektiv, schnell, zuverlässig. Aber halt Pferdewechsel und, wenn ich mich recht erinnere, Diktatur oder so. Also Brasilien morgen.

Wegen der Wahlen verlieren die Parteien zunehmend das Vertrauen zu ihren Wählern, und das mit Recht! Wenn sich an einem normalen Sonntag 100 000 SPD-Wähler zu einem Spaziergang zur AfD aufmachen, ist das nicht mehr lustig. Dabei hat doch die SPD, sagt sie, „Themen besetzt“ und „Kompetenz“ zugewiesen bekommen, von allen Seiten! Schlimm, diese unzuverlässige Wähler-Bagage! So gesehen, kann man keinem Wähler mehr über den Weg trauen.

Anders gesehen hieße das aber, dass in einer halbwegs aufgeklärten Republik wie unserer im Bewusstsein der Menschen offenbar kein Platz mehr ist für die eigene Geschichte, kein Platz fürs Erinnern, für die Kämpfe um soziale Gerechtigkeit, Stimmrecht, Demokratie. Auf Werte wie Solidarität wird angeblich gepfiffen, keiner scheint mehr so recht zu wissen, welche Opfer die Arbeiterbewegung, die Gewerkschaften, die Parteien der Linken in den letzten 100 Jahren gebracht haben, und erst recht nicht, dass sich die Rechte das Ende der Republik auf ihre Fahnen geschrieben hatte.

„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Dafür kannste dir aber nischt koofen“, würde meine Omi Glimbzsch in Zittau jetzt sagen. Richtig. Aber man muss nichts abstauben an solchen Werten, nichts an der eigenen Geschichte. Denn eine solide Republik und eine solide Politik sind ohne diese Werte nicht zu machen. Der Kapitalismus ist ein Auslaufmodell, das weiß selbst Franziskus. Zurückgewinnen muss die SPD das Grundvertrauen zu ihrer eigenen Geschichte, einer Geschichte mit Kämpfen und Fehlern und Niederlagen und Siegen. Zu den Siegen gehört unsere Republik. Es wäre doch gelacht, wenn das nicht 25 bis 35 Prozent der Menschen kapieren würden. Pfeift auf die Ministerposten, wechselt die Pferde, auf nach Europa.

Peter Grohmann ist Kabarettist und Initiator des Bürgerprojekts Die AnStifter.
Die KONTEXT:Wochenzeitung ist eine Internet-Zeitung aus Stuttgart, die seit mehr als 7 Jahren wöchentlich mittwochs ins Netz gestellt wird. Zusätzlich liegt sie als Printausgabe der Wochenendausgabe der taz bei. Wir danken der Redaktion und Peter Grohmann für die Zustimmung zum Abdruck der Kolumne. Näheres unter: https://www.kontextwochenzeitung.de/kolumne/396/pferdewechsel-5441.html

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