Armut und Reichtum
Im letzten Sommer wurde der vierte Armutsbericht der Bundesregierung veröffentlicht. Es ist eher nicht zu vermuten, dass aus den gewonnenen Erkenntnissen Konsequenzen gezogen werden. Armut ist ein Gift, das langsam und lang wirkt, und wer erst einmal arm ist, wird von der Gesellschaft abgekoppelt. So zeigt die Studie, dass die Zahl der Armen gestiegen ist, ebenso wie die Zahl der Reichen.
Wenn die Ursachen dieser Ungerechtigkeit geändert werden sollten, muss nicht nur über Armut, sondern auch über die Verteilung des Reichtums gesprochen werden. Zugleich sollten wir uns dabei eingestehen, dass nicht mehr gilt, was früher noch allgemeine Überzeugung war. „Jeder ist seines Glückes Schmied“ hieß es. Das ist heute vorbei und vorbei sollte es auch mit dem Umkehrschluss sein, dass jeder es selbst zu verantworten hat, wenn es mit dem Schmieden und dem Glück nicht so funktioniert hat.
„Wohlstand für alle“, hat ausgedient. „Steigern des Reichtums in privater Hand“, heißt die Marschrichtung und die setzt einer notwendigen Verteilung des Reichtums enge Grenzen.
Stützen der Gesellschaft
„Stützen der Gesellschaft“ ist der Titel des 1926 entstandenen und wohl bekanntesten Bildes von George Grosz. Diesen Titel übernahm Grosz von einem gleichnamigen Drama des Norwegers Henrik Ibsens. In Ibsens realistischem sozialkritischen Stück aus dem Jahre 1878 prangert er die Großindustriellen seiner Zeit an und warf ihnen vor: Je lauter sich die Mächtigen für das Allgemeinwohl einsetzen, desto egoistischer sind ihre Motive. Ibsen portraitiert in diesem Drama die heuchlerische Moral der bürgerlichen Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts: Im Lauf des Stücks erweisen sich die so genannten „Stützen der Gesellschaft“ als Betrüger.
Das Bild von Grosz gibt Anlass ebenfalls darüber nachzudenken, ob die Eliten unserer Gesellschaft überhaupt willens sind, sich eine Umverteilung des Reichtums vorzustellen. Anders herum gefragt: Gibt es im politischen Spektrum noch genügend Potential, um den augenblicklichen Zustand zu ändern.
Kurt Tucholsky hat 1928 unter dem Pseudonym Theobald Tiger 1928 das unten abgedruckte Gedicht „Asyl für Obdachlose“ veröffentlicht. Seine Botschaft: Ohne Klassenkampf bekommst Du allenfalls einen „alten blechernen Topp“.
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Asyl für Obdachlose!
Und stehst du einmal am Ende
und hast keine Bleibe, kein Brot –
dann falte zufrieden die Hände,
man sorgt für deine Not.
Es gibt für solche Zwecke
ein Asyl – da findet der Mob
ein eisernes Bett, eine Decke
und einen alten blechernen Topp.
Hast du dein ganzes Leben
geschuftet wie ein Vieh;
und gehts dir im Alter daneben,
entläßt dich die Industrie –:
dann heißt es noch lang nicht: Verrecke!
Der Staat gibt dir sachlich und grob
ein eisernes Bett, eine Decke
und einen alten, blechernen Topp.
Manche auf diesem Planeten
leben bei Sekt und Kapaun.
Ja, solln sie vielleicht dem Proleten
einen Palast aufbaun –?
Andre verrecken im Drecke.
Du hasts noch gut – na, und ob!
Du hast im Asyl eine Ecke,
ein eisernes Bett, eine Decke
und einen alten blechernen Topp!
Wohltaten, Mensch, sind nichts als Dampf.
Hol dir dein Recht im Klassenkampf –!
Theobald Tiger
Arbeiter Illustrierte Zeitung, 1928, Nr. 37, S. 10.
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Zum Schluss ein Auszug aus einer aktuellen Kolumne von Sybille Berg. Sie schreibt auf Spiegel-online u.a.: Der gemeine rechtskonservative Elitemensch hat kein Interesse am Volk. Das Volk, die Masse, die KonsumentInnen kennt er nur als graues Rauschen im Hintergrund. Die Leute. Die Leute, die nerven. Sie wollen gefüttert werden, wollen Parks und Kindergärten, und sie ruinieren den Planeten mit ihrer Vermehrung.