Dörte Hansen: Mittagsstunde
Wie der wochenlang die Bestsellerlisten anführende Überraschungserfolg Altes Land spielt auch dieses Buch ebendort, auf dem Land, aber diesmal nicht jenseits der Elbe, sondern in Nordfriesland, Hansens eigener Heimat, im fiktiven Geestdorf Brinkebüll bei Husum.
Der 48-jährige Archäologe und Universitätsdozent Ingwer Feddersen kehrt aus Kiel, wo er in einer nicht mehr zu seinem Lebensgefühl passenden WG wohnt, für ein Sabbatjahr zurück, um sich um seine alt gewordenen Großeltern zu kümmern. Dieses Jahr der Entscheidung, was er mit dem Rest seines Lebens anfangen will, ist aber auch ein Jahr der Wiedergutmachung. Denn er hat sowohl mit dem Dorf, als auch mit seinen Großeltern noch eine Rechnung offen, eine Schuld abzutragen, weil er statt wie geplant deren Gasthof und Landwirtschaft zu übernehmen, zur höheren Schule und dann zu den „Studierern“ gegangen ist.
Dieses Jahr des Wiedergutmachens ist aber auch ein Jahr der Erkenntnis über vielfältige Familiengeheimnisse. Beim Lesen entdeckt man, dass die Beziehungen zwischen den wortkargen Helden der Dorf- und Familiengeschichte wesentlich komplexer und tiefgründiger sind, als sich zu Beginn erahnen lässt.
Das alte, krumme, lebendige Bauerndorf aus vielen bescheidenen Mischhöfen mit Reetdächern, kleinen Wegen und Feldern, Knicks und Hecken, mit vielen Orten zum Verstecken existiert nach der Flurbereinigung der 60er-Jahre nicht mehr. Das Dorf ist heute leer, ruhig, wirkt tot, ein Schlafdorf mit noch zwei, drei spezialisierten Großhöfen, großen, geraden Straßen und Feldern, Waschbetonchic und Asphalt. Wachse oder weiche. Der Fortschritt hat seinen Preis. Doch auch viel Immaterielles ist verschwunden: Gerüche, Heuwagen, der Frühschoppen und die heilige Mittagsstunde der Brinkebüller. Im Verlauf des Buches lernen wir Gewinner und Verlierer der großen Veränderung kennen und verfolgen im Wechsel aus Jetztzeit und Vergangenheit die Lebensläufe mehrerer Generationen.
Die Erzählbewegung ist ein lakonisches Auflisten der großen und kleinen Ereignisse. Im gleichwertigen Nebeneinanderstellen, immer wieder Aufgreifen und Ergänzen wird die alte kreisförmige, in Naturabläufe eingebettete Lebensform nachempfunden. Kleine Brocken Plattdeutsch formen den authentischen Klang.
Die Familien- und Dorfgeschichte ist spielerisch-wahrhaftig eingebettet in eine größere Epochengeschichte. Wie einst exakt hier in der Jungsteinzeit der Übergang vom Zeitalter der Jäger und Sammler zu dem des sesshaften Bauern stattfand, so endet dieses nun wieder. „Homo ruralis“. Fast ausgestorben. Zeitalter fingen an und endeten, so einfach war das. Das Dorf, das Land brauchte niemanden. Der Wind war immer noch der alte. Er schliff die Steine ab und knickte Bäume, beugte Rücken. Auch diesem alten Wind war es egal, was Menschen taten, ob sie blieben oder weiterwanderten. Es ging hier gar nicht um das bisschen Mensch.
Text: Hella Koch – Buchhandlung am Amtshaus