Vorbemerkungen:
Gabriele Goßmann ist nicht nur den LeserInnen von MENGEDE:InTakt! bekannt, denn bis zum Ende letzten Jahres gehörte sie auch zum Team der „Buchhandlung am Amtshaus“ und absolvierte dort eine Ausbildung als Buchhändlerin. Vorher hat sie studiert und das Studium mit einem Masterabschluss in Germanistik und Geschichte erfolgreich beendet.
Nach ihrer Ausbildung zur Buchhändlerin hat sie zunächst mal eine Ruhepause eingelegt, um dabei zu überlegen, wie es in Zukunft weiter gehen wird. Diese Überlegungen sind noch nicht abgeschlossen; sie weiß jedoch, dass sie weiter in der Buchbranche arbeiten möchte. In der Zwischenzeit hat sie ihre Webseite fertiggestellt (www.auslesbar.de), mit der sie vor allem Literaturempfehlungen publizieren möchte.
Und schließlich hofft sie auch, ihren ersten Roman bald fertigstellen und veröffentlichen zu können, an dem sie seit etwa drei Jahren arbeitet
Heute setzen die wir Reihe fort, in der sie Bücher bespricht und zur Lektüre empfiehlt.
Francesca Melandri: „Alle, außer mir“
Mood nachdenklich
Content
Kennen Sie Ihren Vater? Wissen Sie, wer er wirklich ist? Kennen Sie seine Vergangenheit? Die vierzigjährige Lehrerin Ilaria hätte diese Fragen wohl mit »ja« beantwortet, und auch ihre Angehörigen glaubte sie zu kennen – bis eines Tages ein junger Afrikaner auf dem Treppenabsatz vor ihrer Wohnung in Rom sitzt und behauptet, mit ihr verwandt zu sein. In seinem Ausweis steht: Attilio Profeti, das ist der Name ihres Vaters … Der aber ist zu alt, um noch Auskunft zu geben.
Hier beginnt Ilarias Entdeckungsreise, von hier aus entfaltet Francesca Melandri eine schier unglaubliche Familiengeschichte über drei Generationen und ein schonungsloses Porträt der italienischen Gesellschaft. (Klappentext)
Preview
Der große Roman der römischen Autorin Francesca Melandri: eine Familiengeschichte, ein Porträt Italiens im 20. Jahrhundert, eine Geschichte des Kolonialismus und seiner langen Schatten, die bis in die Gegenwart reichen. (Klappentext)
Review
Im Zuge der diesjährigen lit.COLOGNE fand eine Lesung mit der ital. Schriftstellerin und Drehbuchautorin Francesca Melandri auf dem Literaturschiff statt, bei der ich als Gast dabei war. Während das Schiff gemütlich über den Rhein schipperte, unterhielt uns die Autorin mit amüsanten Anekdoten zu ihren bisherigen Werken. Den gelungenen Abend nehme ich zum Anlass, ihr neuestes Werk noch einmal aufzugreifen und es zu rezensieren.
Das Buch „Alle, außer mir“ (im Original aus dem Italienischen: „Sangue giusto“), das 2018 zum Buch der Unabhängigen Buchhandlungen gewählt wurde, steht in engem Zusammenhang mit den beiden zuvor von der Autorin veröffentlichten Werken „Eva schläft“ und „Über Meereshöhe“. Daher empfiehlt sie, alle drei Titel zu lesen. Dreh- und Angelpunkt der Handlungen ist das Thema Vater, Vaterschaft, Vaterland. Die drei Bücher müsse man nicht in ihrer erschienenen Reihenfolge lesen, doch habe sie ihr Projekt von Anfang an als Trilogie angelegt, weil sie wüsste, ein Buch würde für diese komplexe Thematik nicht ausreichen.
Sie berichtet, sie habe sich zunächst sehr intensiv mit der Geschichte und Politik ihres Landes auseinandergesetzt, wäre persönlich nach Äthiopien gereist und habe Zeitzeugen befragt, um dann in einem zweiten Schritt von den gesammelten Fakten Abstand zu nehmen und eine fiktive Geschichte zu erschaffen, die im Kern die Geschichte und Politik des Landes widerspiegele.
Zur Rezeption des Werkes erzählt sie: Während die Italiener in erster Linie erstaunt über die Hintergründe ihrer eigenen Kolonialgeschichte unter Mussolini gewesen seien, habe das Hauptaugenmerk der anderen europäischen Staaten eher auf der Flüchtlingspolitik gelegen.
Die Autorin nähert sich über den Titel ihres jüngsten Romans dessen Inhalt. Der Originaltitel „Sangue giusto“ lasse sich nicht 1:1 ins Deutsche übertragen. „Sangue“ bedeute eindeutig „Blut“, doch „giusto“ sei vieldeutiger: Man könne es u.a. mit „gerecht“, „richtig“, „wohlverdient“ übersetzen. Sobald man sich jedoch für eine Variante entscheide, gehe die Vielfältigkeit des Titels verloren. Deshalb hätten sich die deutschen Herausgeber lieber für ein Zitat Profetis entschieden, das zugleich dessen Lebensmotto darstelle „Alle müssen irgendwann sterben“ – „Alle, außer mir.“
Meine Meinung: Obwohl der Roman alles andere als leichte Kost ist – u.a. weil es an manchen Stellen eine sehr starke Verästelung der Nebenhandlungen gibt – lohnt es sich, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Es werden die zentralen Fragen aufgeworfen, was einen guten Vater ausmacht und wie Väter mit dem Vaterland in Verbindung stehen. Francesca Melandri entwirft das Konzept vom Vater als Mikrokosmos und vom Vaterland als Makrokosmos. Alles was sich in der familiären Welt des Vaters abspielt, wird demnach von ihr auf das große Ganze des Landes übertragen.
Ihr gelingt es, ein facettenreiches Porträt ihres Heimatlandes zu entwerfen, indem sie verschiedene Zeitebenen, Handlungsstränge und Schauplätze ineinander verschachtelt. Der Leser hat dabei eine enorme Strecke zu bewältigen, von der Provinz über Rom nach Äthiopien, zurück in die Vergangenheit und wieder vorwärts in die Gegenwart.
Besonders eindrucksvoll ist die Eröffnung des Romans, die zugleich den Beginn der historischen Auseinandersetzung der Protagonistin Ilaria mit ihrem Vater und Vaterland einläutet. Hierbei kommen gezwungenermaßen die dunklen Ecken der ital. Geschichte zum Vorschein. Endlich wird das thematisiert, was lange Zeit verschwiegen wurde: die Gräueltaten unter Mussolinis Eroberungskrieg mit Giftgas im Jahre 1935, die Verwicklungen Italiens mit Libyen unter Berlusconi, das Verschwimmen der Machtverhältnisse, der Trasformismo (die politische Auflösung von Oppositionen) …
Anhand der Hauptfigur Attilio Profeti werden all diese Themen aufgefächert. Attilio wird auf der einen Seite als gefühlskalter Stratege dargestellt sowie als Erpresser und Opportunist, als „Fähnchen im Wind“. Er ist die Personifikation des Trasformismo. Doch auf der anderen Seite beweist er Moral, als er seinen Sohn aus dem Gefängnis und von der Folter befreit. Ein gewisses Maß an Ambivalenz zeichnet jede Hauptfigur aus. Auch wenn die Hautfarben der Charaktere sich in Schwarz und Weiß unterscheiden und nach der Gegebenheit des Blutes bzw. der Herkunft differenziert wird, wird durch die Autorin keineswegs plumpe Schwarz-Weiß-Malerei betrieben. Vielmehr zeigt sie auf, wie schwierig die Definition von „Sangue giusto“ ist, wie verästelt und vermischt das Blut ist.
Best Quote
„Damals hatte Attilio seiner Mutter kein Versprechen abgenommen, sondern sich selbst, ein für alle Mal. Drei Wörter hallten durch seinen Kopf, mit der unbedingten Kraft des Absoluten: ‚Alle, außer mir.‘“ (Kapitel 0 2012, erste Seite)
Learning
Der Leser erfährt, abseits vom Dolce-Vita-Feeling, viel über die dunkle Geschichte Italiens sowie über die Flüchtlingspolitik des Landes und die Verknüpfung von damals und heute. Die Autorin regt zudem zum Nachdenken über die eigene Herkunft an.
Quartbuch Wagenbach; Erschienen als deutsche Ausgabe: 21. Juni 2018;
ISBN: 978-3-8031-3296-3; 608 Seiten