Buchempfehlung (4) von Gabriele Goßmann

 Esther Kinsky:

Hain 

Vorbemerkungen

Gabriele Goßmann; Foto: Ramona – Studioline Photography

Gabriele Goßmann ist nicht nur den LeserInnen von MENGEDE:InTakt! bekannt, denn bis zum Ende letzten Jahres gehörte sie auch zum Team der „Buchhandlung am Amtshaus“ und absolvierte dort eine Ausbildung als Buchhändlerin. Vorher hat sie studiert und das Studium mit einem Masterabschluss in Germanistik und Geschichte erfolgreich beendet.
Nach ihrer Ausbildung zur Buchhändlerin hat sie zunächst mal eine Ruhepause eingelegt, um dabei zu überlegen, wie es in Zukunft weiter gehen wird.  Diese Überlegungen sind noch nicht abgeschlossen; sie weiß jedoch, dass sie weiter in der Buchbranche arbeiten möchte. In der Zwischenzeit hat sie ihre Webseite fertiggestellt (www.auslesbar.de), mit der sie vor allem Literaturempfehlungen  publizieren möchte.
Und schließlich hofft sie auch, ihren ersten Roman bald fertigstellen und veröffentlichen zu können, an dem sie seit etwa drei Jahren arbeitet.
Heute setzen  wir die Reihe fort, in der Gabriele Goßmann Bücher bespricht und zur Lektüre empfiehlt. 

Mood
Entspannend, herzzerreißend, depri

Content
Drei Reisen unternimmt die Ich-Erzählerin in Esther Kinskys Geländeroman. Alle drei führen sie nach Italien, doch nicht an die bekannten, im Kunstführer verzeichneten Orte, nicht nach Rom, Florenz oder Siena, sondern in abseitige Landstriche und Gegenden – nach Olevano Romano etwa, einer Kleinstadt in den Hügeln nordöstlich der italienischen Hauptstadt gelegen, oder in die Valli di Comacchio, die Lagunenlandschaft im Delta des Po, halb von Vögeln beherrschte Wasserwelt, halb dem Wasser abgetrotztes Ackerland.

Esther Kinsky (Copyright:Heike Steinweg).

Zwischen diesen beiden Geländeerkundungen im Gebirge und in der Ebene führt die dritte Reise die Erzählerin zurück in die Kindheit: Wie bruchstückhafte Filmsequenzen tauchen die Erinnerungen an zahlreiche Fahrten durch das Italien der Siebzigerjahre auf, dominiert von der Figur des Vaters. (Klappentext)

Preview
Esther Kinskys Streifzüge und Wanderungen – im Gedächtnis ebenso wie gehend oder fahrend in der Gegenwart – sind Italienische Reisen eigener Art. Sie erkunden mit allen Sinnen äußeres Terrain und führen doch ins Innere, zu Abbrüchen der Trauer und des Schmerzes und zu Inseln des Trostes. Der einfühlsame, präzise Blick der Reisenden entlockt jedem Gelände, was eigentlich im Verborgenen liegt: Geheimnis und Schönheit. (Klappentext)

Review
Wer das Buch bereits gelesen hat, hat sich mit Sicherheit schnell eine Meinung darüber gebildet: Entweder findet man es total ermüdend, da jegliche Dialoge und Spannungsmomente fehlen. Auch Italienfans kommen nicht wirklich auf ihre Kosten. Die Protagonistin unternimmt nämlich keine typisch sommerliche Reise ins Bella Italia, sondern beginnt sie im tiefsten Winter. Oder eine andere Möglichkeit, sich dem Inhalt zu nähern, ist, ihn nicht als bloßen Geländeroman zu lesen, in dem die geographischen Schilderungen für sich allein stehen. Man findet erst dann einen richtigen Zugang zu der Geschichte, indem man die Landkarte, die sich über die Handlung spannt, mit dem Innenleben der Hauptfigur verknüpft.

Die Aufteilung des Buches in drei Teile erinnert an ein Triptychon. Die Seitenteile 1 und 3 bestehen größtenteils aus Beschreibungen der äußeren Welt, während der Mittelteil in das Innenleben und die Erinnerungen der Erzählerin vordringt. Die ab und an eingestreuten englischen Titel weisen auf die Zeit in ihrer Heimat hin, in der sie einst mit ihrem Partner glücklich war.

Das erste Kapitel ist zugleich das signifikanteste, denn hier stellt die Autorin vii und morti, die Lebenden und die Toten, gegenüber. Jedes darauffolgende Kapitel spaltet sich dementsprechend in die zwei Zustände auf, in lebende und tote Materie. Z.B. zeichnet sich das Dorf Olevano, das im Grunde als pars pro toto für jede erdenkliche Stadt steht, durch die Koexistenz von Lebenden und Toten aus, denn die Bewohner der Stadt bewegen sich auf dem Terrain der morti, den Toten auf dem Friedhof.

Der Grund, weshalb die Protagonistin nur noch schwarz-weiß sieht, ist, dass ihr Lebensgefährte – „M“ wie morti? –  kürzlich einer schweren Krankheit erlegen ist und sie alles auf seinen Tod bezieht. Nach und nach erfährt der Leser mehr über ihre Beziehung zueinander, wenn auch nur bruchstückhaft. Die Erzählerin stellt das Lebende neben das Tote auf die Waagschale und guckt, was davon überwiegt. Dabei muss sie sich selbst zwischen Leben und Tod entscheiden. Was gibt es noch in der Welt, das sie am Leben hält?

Auch der Titel des Buches verweist auf die Aufspaltung in Leben und Tod. „Hain“ impliziert einerseits den Gevatter Hein, andererseits steht ein Hain allerdings auch symbolisch für Wachstum und für das Leben. Die Haine stellen aber auch ein Bindeglied zwischen Himmel und Erde, zwischen vii und morti, dar: „Die spärlichen Pappelhaine waren der Landschaft Anker in den Lüften.“ (S. 123) Ein weiteres Bindeglied ist das Bleiherz der Erzählerin: „Das Bleiherz verwuchs mit allem, was sich an Gesehenem in [ihr] niederließ.“ (S. 29) Ihr Herz ist in Trauer, aber dennoch muss es weiterschlagen.

Da die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Gefühlswelt zu schmerzhaft ist, nähert sie sich mittels einer Beschreibung der Landschaft ihrem Innern sowie ihrem Vater an. Ist etwas Furchtbares passiert, nehmen wir als Schutzreaktion erst einmal emotionalen Abstand vom Geschehenen – das ist auch für die Protagonistin der momentan einzig mögliche Weg, mit der Situation umzugehen. Auch für den Leser ist es zuweilen entspannend, fast meditativ, den Schilderungen des Geländeromans zu folgen. An anderen Stellen wirkt die lethargische Beschreibung der Nekropolen hingegen zu bedrückend, da von nichts anderem mehr die Rede ist als von Friedhöfen. Die Erzählerin entwickelt eine regelrechte Manie, sich mit den Toten beschäftigen zu wollen. Sie geht an diesen Stätten den Spuren von Frauenschicksalen nach – in der Hoffnung, in ihnen eine Lösung für ihr eigenes Schicksal zu finden. Sie bewegt sich in einem Stillleben (sie befindet sich sowohl in der Stille als auch mitten im Leben), in welchem sie sich selbst zu lokalisieren versucht.

Die Schilderung ihrer Kindheit lässt andeuten, dass die Beziehung zu ihrem Vater stets ambivalent war, denn an einigen Stellen hat es den Anschein, als habe er eine Last, die ihn unnahbar machte, mit sich herumgetragen – eine Depression? In ihrer Kindheit hatte sie jedenfalls Angst vor einem plötzlichen Verschwinden ihres Vaters. Zwischen dem geographischen Fanatismus des Vaters und der Italienreise der Hauptfigur besteht eine enge Verbindung. Indem sie als Tochter das Lieblingsland ihres Vaters mit dessen Augen erforscht, will sie sich ihm annähern. Hinter dem erschlossenen Gelände erahnt sie ein „Niemandsland, Verwilderung, gestörtes Gelände alter Geschichten“ (S. 201). Über die Beschäftigung mit dem Tod des Vaters ermöglicht sie es sich außerdem, eine Grundlage für die bevorstehende Trauer um ihren Lebensgefährten zu schaffen.

Best Quote
„Ein Gelände, das in mir seine Spuren hinterließ, ohne dass von mir eine lesbare Spur blieb. Etwas an dem Verhältnis zwischen Sehen und Gesehenem, zwischen der Bedeutung des Sehens und der des Gesehenseins oder Gesehenwerdens als tröstlicher Bestätigung der Existenz erschien mir plötzlich als ein brennendes Rätsel, das sich jedem Namen entzog.“ (S. 109)

Learning
Der Roman zeigt einen möglichen Weg auf, mit Trauer umzugehen. Er verdeutlicht zudem, dass dem Leben immer auch der Tod anhaftet und man sich dessen bewusst werden soll, damit man das Leben besser versteht. Darüber hinaus können wir von dem Geländeroman lernen, sich mit einer nahestehenden Person, mit der man sich auseinandergelebt hat, auszusprechen, bevor es womöglich zu spät ist und nur noch der Boden übrig bleibt, auf dem sie als vii stand.

Suhrkamp; Erschienen (als HC): 12. Februar 2018; ISBN: 978-3-518-42789-7; 287 Seiten

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