Zum Arzt, wer keine Visionen hat!
Eine Kolumne von Peter Grohmann
KONTEXT:Wochenzeitung 04.09.2019
Jetzt kriegt doch tatsächlich die Demokratie den Schluckauf! Erst wird sie ersehnt, erkämpft, geschenkt, aufs Auge gedrückt, gewonnen, geahnt, und dann das: Fast 40 Prozent der Wahlberechtigten pfeifen drauf, auf alles. Wir müssen beleidigt sein. Okay, viele sitzen im Knast, andere haben einfach verschlafen, sind im Urlaub, haben den Termin verwechselt, im Wahl-O-Mat gewählt oder eine Lese-Rechtsschreib-Schwäche – aber den meisten dieser vielen Prozent ist die Demokratie im Grund egal. Ost oder West – da dreh ich die Hand nicht um, sagte meine Omi Glimbzsch in Zittau nach dem Wahlerfolg der NSDAP.
Wer keine Visionen hat, muss zum Arzt gehen. Das wäre auch ein guter Rat für Sybille Krause-Burger, Starkolumnistin einer der größten Tageszeitungen der Welt. Sie pirschte sich dieser Tage mit einem Kommentar an meine Freundin Greta Thunberg ran und behauptete wider besseres Wissen, Thunberg sei gar kein Engel. Andererseits machte sie aber auch mitten im Sommerloch darauf aufmerksam, dass die rechten und die linken Propheten viel gemeinsam hätten. Okay, sag ich mir – nehmen wir Jesus, Friede Springer, Frau Tchibo, Söder, Glyphosat, Wilhelm Hegel (nicht Friedrich, liebe StZ!) oder Dr. Oetker. Liebe Sybille, wahr ist doch aber auch, dass die rechten Propheten die linken Propheten ins KZ schickten – und nicht umgekehrt. Wer die rechten Programme liest, weiß, dass sie’s auch heute wieder tun würden. Vergleichen Sie einfach mal das Plakat zum Thema Israel, das bei den Europawahlen Furore machte und nicht verboten wurde, wegen Demokratie und so: „Wir hängen nicht nur Plakate.“ Unsereins müsste dran glauben.
Greta übrigens und ihre Schwestern und Brüder haben keine Löschfahrzeuge für die Urwälder, sie haben nur ihre Stimmen. Ob und wie lange sie gehört werden, entscheiden nicht allein, aber doch sehr betont und weltweit die Medienmogule und ihre Hilfstruppen. „Wenn man ganz genau hinschaut, dann sieht man, dass die politischen Journalisten eigentlich mehr zur politischen Klasse gehören und weniger zum Journalismus“, so der Zeitgenosse Helmut Schmidt. Und das hat Folgen. Es gibt ein paar Ideen, das zu ändern. Etwa eine freie Presse, oder die Stimmen der Minderheiten und jener Propheten, die den Klimawandel und seine Folgen – Hunger und Durst nach Gerechtigkeit – nicht leugnen. Beim großen Klimastreik am 20. September können die Freunde der Demokratie Flagge zeigen und laut werden – sie können das tun, was die Generation Oma und Opa versäumt hat. Können? Müssen.
Peter Grohmann ist Kabarettist und Koordinator des Bürgerprojekts Die AnStifter
Die KONTEXT:Wochenzeitung ist eine Internet-Zeitung aus Stuttgart, die seit mehr als 7 Jahren wöchentlich mittwochs ins Netz gestellt wird. Zusätzlich liegt sie als Printausgabe der Wochenendausgabe der taz bei. Wir danken der Redaktion und Peter Grohmann für die Zustimmung zum Abdruck der Kolumne. Näheres unter
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