Buchempfehlung des Monats

William Melvin Kelley:  Ein anderer Takt

Mario Lars: Bücher

Der wiederentdeckte Debütroman und Sensationserfolg des 24-jährigen William Melvin Kelley von 1962 hat nichts von seiner Faszination und Aktualität verloren. In der Kleinstadt Sutton in einem fiktiven Staat zwischen Alabama im Osten, Mississippi im Westen und Tennessee im Norden, also im tiefsten Süden der USA, schlachtet der afroamerikanische Farmer Tucker Caliban seine Tiere, brennt sein Haus nieder und versalzt seine Felder.

Ohne Erklärung verlässt er an einem Donnerstag mit seiner Frau den Staat. Freitag und Samstag folgen ihm aus allen Dörfern und Städten per Bus, Bahn und zu Fuß sämtliche Afroamerikaner des Staates über dessen Grenzen hinaus und zerstreuen sich auf der Suche nach einem würdevolleren, besseren Leben in den USA.

Dieser Heimatstaat des Konföderiertengenerals Dewey Willson, dessen Hauptstadt nach ihm benannt wurde, ist ein Urstaat des rassistischen Südens. Der Exodus, die Weigerung, weiterhin in dem Unterdrückungssystem zu leben, ist ein wuchtiges Szenario. Es fasziniert auf drei Ebenen: auf der Basis des mythisch-biblischen Auszugs der Israeliten aus Ägypten, der Erzählebene der Selbstermächtigung der Afroamerikaner und der wieder hochaktuellen des ethnopluralistischen Narrativs. Das andere, das „afrikanische Blut“ wird für das für die weiße Bevölkerung absolut unverständliche Verhalten verantwortlich gemacht, Abstammung und Gene statt der sozialen und politischen Frage. Die Handlung wird zwar bestimmt durch die autonome Entscheidung der Afroamerikaner, die Geschichte selbst jedoch ausschließlich aus der Perspektive der Weißen erzählt. Dass dies durch einen afroamerikanischen Autor geschieht, verschärft die Sprengkraft. Die verbleibende Restbevölkerung rätselt nicht nur vergebens über die Motive des anderen Drittels, sondern ist sie sich auch nicht im Geringsten über die ökonomischen Folgen klar. Vielmehr beruhigt sie sich mit den Worten des Gouverneurs: „Es gibt keinen Grund zur Sorge. Wir haben sie nie gewollt, wir haben sie nie gebraucht, und wir werden sehr gut ohne sie zurechtkommen.“ Kelleys Perspektive in Bezug auf das moralische Potenzial der Weißen ist pessimistisch.

Text: Hella Koch – Buchhandlung am Amtshaus

 

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