Corona-Quarantäne und “Stubenarrest”(7)

Was machen Menschen in unserem Stadtbezirk in Zeiten der Krise?

Wir haben uns umgehört und eine kleine – nicht repräsentative – Umfrage gestartet. Wir bekamen Antworten, wie die Menschen in unserem Stadtbezirk mit dieser ungewöhnlichen Situation umgehen. In einer kurzen Serie stellen wir unseren LeserInnen ihre Reaktionen vor.

Heute
Klaus Neuvians

Lesen, lesen, lesen während der Coronakrise und die Erkenntnisse daraus.

Was fängt mensch in diesen Tagen mit der reichlich verfügbaren Zeit an, lautet die Frage der Redaktion von MENGEDE:InTakt! Keine Sorge, Langeweile kommt nicht auf.  Lesen, Musizieren und Schreiben und dazwischen etwas Spazierengehen lässt sich auch in der  augenblicklichen postoperativen Phase problemlos bewältigen. Gartenarbeit, längere Spaziergänge  oder kurz mal eben nach Bergen man Zee fahren, kommt eher nicht infrage. 

So ist zunächst die Feststellung zu treffen, dass die augenblickliche Freizeit keine richtige Freizeit ist, wie wir sie üblicherweise kennen und schätzen gelernt haben, sondern eine, die durch behördliche Vorschriften maßgeblich eingeschränkt ist.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich alle im Jahr 1950 und früher Geborenen erst an das Gefühl gewöhnen müssen, zu einer Hoch-Risikogruppe zu gehören. Gelegentlich mag man das aus dem Blick verlieren, aber es ist nun mal zu jeder Zeit in den Medien präsent und erinnert daran, dass die Hoffnung 100 Jahre alt zu werden, doch auf wackeligen Füßen steht.

Zum Mitglied der Risikogruppe gehört ein kleidsamer Mundschutz

Ein langer Stubenarrest gilt – nach Wikipedia – heute als eine der schwerwiegendsten Strafen ohne direkte Gewaltanwendung. Im November 2000 wurde in Deutschland das „Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“  verabschiedet. Nach diesem Gesetz ist Stubenarrest in der Erziehung nur insoweit erlaubt, als das Kindeswohl nicht gefährdet wird. Hierbei handelt es sich um eine unpräzise und allgemein gehaltene Formulierung, was heute kaum noch thematisiert wird, auch weil mittlerweile ist an die Stelle des Stubenarrests mit dem Computerverbot eine wirkungsvollere Sanktionsmaßnahme getreten ist.

Im übrigen war die erzieherische Wirkung des Stubenarrestes auch früher schon zweifelhaft. Aus eigener Erfahrung kann ich folgendes hierzu beitragen: Im Alter von etwa 10 Jahren bekam ich mal eine derartige Strafe aufgebrummt. Der Grund: Vermutlich erheblich zu spätes Heimkommen vom Spielen in der Sandgrube in der Mengeder Heide.
Strafe musste sein, allerdings konnte ich meinen Großvater Otto Schmidt überzeugen, sich dafür einzusetzen, die Strafe in einen gemeinsamen Sing- und Mundharmonika-Nachmittag mit ihm umzuwandeln. Das gelang ihm und war dann für beide ein Vergnügen.

Weiterhin ist mir beim Thema „Stubenarrest“ eingefallen, dass der Dichter Friedrich Hölderlin (1770-1843), dessen 250. Geburtstag in diesen Tagen gefeiert wird, die Hälfte seines Lebens im Turm des Schreinermeisters Zimmer praktisch im Stubenarrest verbracht hat. Das hatte mit seinem Geisteszustand zu tun, über den in seinem Wohnort Tübingen Gewissheit bestand: „Der Hölderlin isch er verrückt gwä“, stand jahrelang als Graffiti an dem Turm, in dem er die Hälfte seines Lebens – von 1807 bis zu seinem Tod in Pflege verbracht hat.

In diesen Tagen ist ein kleiner Band von Frank Ackermann im Verlag Peter Grohmann  erschienen: HÖLDERLIN Ein Porträt. Baden-Württembergs Ministerpräsident Wilfried Kretschmann schreibt in einem Grußwort u.a.: „Aufgrund seiner seelischen Leiden verbrachte Hölderlin, der so bewegende Gedichte in deutscher Sprache verfasst hat, die zweite Hälfte seines Lebens in Tübingen…
Es (das Portrait) nimmt die Leserinnen und Leser mit auf die Spuren eines von innerer Zerrissenheit und Tragik aber auch großer Poesie und Kunstfertigkeit geprägten Lebens“.

Ein zweites Buch sollte mir ähnlich wie die Lektüre über Hölderlin helfen in diesen schwierigen Zeiten besser „über die Runden“ zu kommen. Das war, wie im Nachhinein festgestellt habe, mutig und optimistisch zugleich. 

1311 eng beschriebene Seiten in dem aktuellen Buch von Thomas Piketty „Kapital und Ideologie“ wollen erst einmal gelesen werden; aber“Stubenarrest“ ist ja vielleicht eher zu ertragen, wenn man sich nicht nur kurze Strecken sondern auch mal einen Marathonlauf vornimmt. Allerdings ist nicht zu bestreiten, die Lesegewohnheiten haben sich durch das Internet doch erheblich geändert – zumindest beim Verfasser dieser Zeilen. Schon allein die Lektüre  des Inhaltsverzeichnisses und die Einleitung des „Piketty“ waren eine Herausforderung.
Doch  später komme ich noch mal auf ihn zurück, vor allem weil das Buch auch Antworten auf die Frage geben könnte, was passiert eigentlich nach der augenblicklichen Krise. Geht es dann weiter wie bisher, nur noch etwas schneller? Ist die Gesellschaft weiterhin unfähig und unwillig, ungleiche Lebensverhältnisse zu beseitigen oder die Klimaprobleme beherzt anzugehen?

Damit bin ich – zugegeben über Umwegen  – dort angelangt, was mich und hoffentlich auch eine beträchtliche Anzahl umtreibt, nämlich die Frage: Was können wir besser machen und wie könnten die Konzepte für eine Veränderung aussehen.
Die Zeit scheint auch aus einem anderen Grund günstig: Die nächste Bundestagswahl wird voraus­sichtlich im Herbst 2021 stattfinden. Das bietet die Chance zu testen, ob die Parteien bereit und in der Lage sind, grundsätzliche Richtungswechsel zu starten, oder setzen sie auf ein „weiter so“. Letzteres dürfte vermutlich nicht ausreichen, politische Mehrheiten zu erzielen. Aber unbestritten sollte sein: Wer nicht will, dass sich die Parteien und deren Lobbyisten in abgeschlossenen Zirkeln oder in scheindemokratischen Veranstaltungen alleine über die nahe Zukunft verständigen, sollte jetzt aktiv werden.

Nachfolgend einige wenige Beispiele, die aus meiner Sicht dringenden Handlungsbedarf erkennen lassen:

  • Das Gerede vom schlanken Staat darf nicht weiter handlungsleitend sein. Dahinter steckt ja die Vorstellung, dass sich der Staat in Sachen Bildung, öffentliche Sicherheit und Ordnung, Gesundheit und Infrastruktur zurückhalten soll, weil der Markt nach dieser Phliosophie alles besser regeln könnte. Das Gegenteil ist der Fall. Die Grenzen des alles regelnden Marktes sind selten so deutlich geworden wie in der augenblicklichen Krise. Ein Eingreifen des Staates zum Erhalt der lebenswichtigen Infrastrukturen ist unumgänglich. Denn sobald es ernst wird, flüchten die Marktliberalen – wie wir im Augenblick wieder sehen – unter die wärmende Decke des Staates.
  • Die Umverteilung von unten nach oben muss ein Ende haben. Auch soziale Gerechtigkeit wird nicht durch den Markt hergestellt, sondern muss wieder ein Ergebnis politischer und gesellschaftlicher Debatten werden.
  • Damit ist die Hoffnung verbunden, dass die gesellschaftlichen Debatten sich nicht maßgeblich mit der Abwehr von Möglichkeiten, sondern mit der Entwicklung von Vísionen für die Zukunft befassen. Bei einer solchen Debatte sollten insbesondere auch  folgende Themen in den Mittelpunkt gerückt werden: Bildungsgerechtigkeit (z. B. auskömmliche Finanzierung auch der Bildungsträger, die bisher mit geringsten Mitteln auskommen müssen); Politikfinanzierung  (z.B. Totalverbot aller Spenden von Unternehmen an Parteien und Deckelung der Spenden durch Privatpersonen an Parteien); Bedingungsloses Grundeinkommen.
  • Mit Blick auf die Zukunft sollte vor allem diskutiert werden, wie sich Europa versteht. Wird es ein Europa, in dem Leute wie Orbán das Sagen haben werden; soll heißen, Leute, die folgenlos eine rechtsradikale Diktatur errichten können. Wenn man weiß, dass ex-EU-Kommissar Oettinger (CDU) vor kurzem erst bei Orbán einen Job als Berater angenommen hat und Frau von der Leyen nur dank der Unterstützung von Orbán das Amt der Kommissionspräsidentin übernehmen konnte, dann schwant einem nichts Gutes.
  • Es gibt derzeit einen widersinnigen Streit, wie den notleidenden Staaten Italien, Spanien. Griechenland  in der jetzigen Krise geholfen werden kann. Die Rettung wären nach mehrheitlicher Ansicht – auch der neoliberalen Wirtschaftswissenschaftler – die sog. „Corona-Bonds“ (Euro-Bonds), also Kredite, die von der Euro-Zone gemeinsam gewährt würden. Beharrlich blockt die deutsche Politik ab. Kanzlerin Merkel, Finanzminister Scholz und  EU-Kom­mis­sions­prä­si­den­tin von der Leyen erklären mit abenteuerlichen Begründungen, dass Corona-Bonds ausgeschlossen seien. Stattdessen favorisiert die GroKo Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), um einzelne Länder zu unterstützen. Ohne das an dieser Stelle weiter auszuführen, die Konsequenz der ESM wäre eine Verlängerung der Eurokrise ins Unendliche, denn die Finanzmärkte würden ab sofort höhere Zinsen für die schwachen Eurostaaten verlangen. Abgesehen davon, dass Deutschland großer Verlierer dieser Operation sein würde, da die Eurozone bisher bester Kunde der Deutschen ist, es wäre ein jämmerliches Zeichen, das von uns ausgehen würde: Nicht einmal im äußersten Notfall ist Deutschland bereit solidarisch zu handeln. Es ist an dieser Stelle an die jämmerliche Flüchtlingspolitik der EU zu erinnern, bei der sich eigentlich jeder fragen muss: Ist das mein Europa, in dem ich leben möchte. Sollten sich die hardliner bei der Finanzierung der Schulden behaupten, kann die Idee von einem geeinten Europa endgültig „in die Tonne gekloppt“ werden.

Erforderlich für die Debatte scheint mir zu sein, dass wir lernen, was solidarisches Handeln bedeutet. Die bevorstehenden Entscheidungen sollten nicht klientelbezogen sein, sondern die Bewahrung unserer Grundwerte und unserer Gesellschaftsordnung im Blick haben. Europa hat seine Zukunft als Ganzes im Blick zu halten.
Noch ist es selbstverständlich, dass eine Mehrheit der Gesellschaft eine lebensbedrohte Minderheit  schützt. Ob das so bleibt ist  in anderen autoritär geführten Staaten fraglich und ein Amerika des Herrn Trump will ich von meiner Skepsis nicht ausnehmen.

Nachtrag:
Was macht eigentlich der „Piketty“ – von dem anfangs mal die Rede war – wird sich manche/r aufmerksame LeserIn fragen. Der wird erst mal auf Eis gelegt und für ruhigere und für bessere Zeiten aufgespart. Hat nicht nur mit dem Umfang des Werkes zu tun, sondern mit einer Lieferung zweier aktueller Bücher durch die Mengeder „Buchhandlung am Amtshaus“.

 

Da der Stubenarrest für die Hoch-Risikogruppe der über 80-Jährigen mit Sicherheit noch etwas andauert, wird in den nächsten Tagen zur Entspannung erst mal zu diesen beiden Büchern gegriffen, bevor der „Piketty“ wieder die ihm gebührende Aufmerksamkeit  erfahren wird.

 

 

 

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