Sascha Lobo: Realitätsschock – Zehn Lehren aus der Gegenwart
Wer hätte damit gerechnet, dass der Klimawandel so schnell spürbar wird und über Nacht eine weltweite Jugendbewegung entsteht? Dass so viele Länder durch einen Rechtsruck erschüttert werden? Dass Hunderttausende nach Europa flüchten und dabei Zehntausende sterben? Dass Brexit und Trumpwahl offenbaren, wie angreifbar liberale Demokratien sein können? Dass derart viel Bürger eher unbekannten Quellen in sozialen Netzwerken vertrauen als klassischen Medien?
So steht es im Klappentext zu lesen, und damit wird klar, es ist nicht wenig, was Sascha Lobo sich vorgenommen hat. In seinem Buch „Realitätsschock“ arbeitet der Netzexperte und Berliner Publizist vor allem Themen der Gegenwart ab – allerdings nicht, wie der Titel vielleicht vermuten lässt, unbedingt etwas Brand-Neues. Dies hört sich möglicherweise als Kritik an, ist aber nicht so gemeint, zumal das Buch auf seinen 390 Seiten spannend zu lesen, daher niemals langweilig und zudem informativ ist.
Es ist ja nicht neu – vor allem in der aktuellen Coronakrise – die Gründe für die gegenwärtigen Probleme in der Globalisierung und in der Digitalisierung zu sehen. So sind die „Realitätsschocks“ nach Auffassung des Autors vor allem in den Bereichen entstanden, in denen technologische Veränderungen die Menschen überfordert haben. „Digitalisierung und Globalisierung haben vorher Unverbundenes vernetzt, vorher Übersehenes sichtbar gemacht und uns die Hoffnung geraubt, Politik, Wirtschaft und Eliten hätten eine gewisse Kontrolle über den Lauf der Dinge“, schreibt Lobo auf S. 10. Und einige Zeilen weiter heißt es: „Etwas scheint zu Ende zu gehen, etwas anderes scheint anzufangen, aber wir können die Umrisse des Neuen bisher nur schemenhaft erkennen.“
Digitalisierung und Globalisierung ziehen sich wie rote Fäden durch das Buch und den „Lauf der Dinge“ stellt er in seinem Buch in vielfältiger Weise zur Diskussion, denn da geht es um Klimawandel, um Migration, um Integration, um Rechtsruck, um Arbeit und Künstliche Intelligenz, um China, um Digitale Gesundheit, um Soziale Medien und Shitstorms, um „Emotional Economy“ und am Ende auch um Hoffnung. Jedes dieser Themen bietet genügend Stoff für ein eigenes Buch, was ja auch tatsächlich auf dem Büchermarkt hinreichend passiert. Um das Kapitel KI als Beispiel zu nehmen: Vor gut drei Jahren erschien z. B. das Buch: Wir sind Cyborgs. Thema ist die bereits jetzt praktizierte Verschmelzung zwischen Mensch und Maschine bzw. die Erweiterung der eigenen Sinne und Fähigkeiten durch chirurgisch implantierte Computerchips. Spannende Fragen, die aufgeworfen werden: Ab wann ist man ein Cyborg, wer entscheidet über die neuen Anwendungen, wer steuert sie.
Auch die jetzt erschienene Schrift des 101 Jahre alten britischen Wissenschaftlers James Lovelock „NOVOZÄN – Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz“, in der er die These entwickelt, dass schon bald aus der KI eine neue Art von Lebewesen hervorgehen wird, Cyborgs, die 10.000 mal fdschneller sein werden als wir. Ein „weises und höchst originelles Buch“.
Damit verglichen ist das vorliegende Buch von Sascha Lobo – wenn für den ein oder anderen möglicherweise auch schockierend – ausgesprochen wirklichkeitsnah und vermutlich in der Lage, ein breites Publikum anzusprechen und Interesse für zusätzliche Recherchen zu wecken.
Bis auf die Einleitung und das Kap. 10 -Zukunft – Die Weisheit der Jugend – Warum die Älteren, von den Jungen lernen müssen, um den Realitätsschock zu bewältigen – , das sollte in der Tat zum Schluss gelesen werden – kann die Reihenfolge der einzelnen Kapitel nach persönlichem Interesse frei gewählt werden. Persönlich am stärksten angesprochen fühlte sich der Autor dieser Zeilen vom Kapitel 5 China – Die chinesische Weltmaschine. Die Informationen über Umfang und Tempo der Entwicklung Chinas waren vielleicht schon mal zu lesen oder zu hören. Der nach Lektüre dieses Kap. 5 bleibt wohl nichts anderes übrig, als sich die Augen zu reiben und sich zu fragen: Träumst Du?
Dass der Welt größter Flughafen nach gerade vierjähriger Bauzeit in China eröffnet wird, mag mancher dem chaotischen Management der Verantwortlichen des Berliner Desasters zuschreiben, möglicherweise auch, weil für einen Vergleich der beiden Bauvorhaben die Vorstellungskraft fehlt. Beim nächsten Beispiel ist das schon einfacher.
Im Herbst 2018 gibt die deutsche Bundesregierung bekannt. dass sie im Rahmen ihrer KI-Strategie in den sieben Jahren von 2019 bis 2025 drei Milliarden Fördergelder bereitstellen wird. Für deutsche Verhältnisse ist das – zumindest bezogen auf Vor-Corona-Zeiten – eine erhebliche Summe. Im Vergleich hierzu das Beispiel der im Norden des Landes gelegenen und in Europa weitgehend unbekannten Hafenstadt Tianjin. Mit seinen rund 13 Millionen Einwohnern liegt sie auf Platz 23 der größten Metropolregionen des Landes. Die Stadt gibt ebenfalls 2018 bekannt, dass die Stadtverwaltung zusammen mit interessierten Investoren einen Fonds für Künstliche Intelligenz aufsetzen will. Die Ziele der Bundesregierung und der Verwaltung von Tianjint sind identisch: Man möchte zur führenden „KI-Region“ werden. Die Chinesen investieren für dieses Vorhaben für einen Zeitraum von 3 Jahren 12 Milliarden Euro, das sind vier mal so viel in halb so kurzer Zeit gegenüber Deutschland. „Das ist eine von buchstäblich Hunderten KI-Förderungsmaßnahmen, die mit großen und größten Summen gestützt werden“.
Welche Vorsprünge an technischem Wissen damit möglich sind, lässt sich nur erahnen. Für S. Lobo ist das 21. Jahrhundert ein chinesisches Jahrhundert, nicht zuletzt wegen der enormen Geschwindigkeit und Entschlossenheit, mit der China an seinen Zielen arbeitet.
Lobos Buch bietet in jedem Kapitel reichlich Fakten und Zahlen auf – nie langweilig oder langatmig präsentiert, eher beschreibend und analysierend, dabei angenehm offen.
In einem Interview erklärte Lobo auf die Frage, warum er sich in seinem Buch so ausgesprochen zurückhaltend gewesen sei, große Lösungen anzubieten:
„Ich möchte mir nicht anmaßen, die eine große Lösung anzubieten. Das ist schade, aber ich glaube, es geht darum, dass man erkennt, auf Basis einer neuen Analyse der tatsächlichen Realität – nach diesem Realitätsschock – müssen wir neue Lösungen erarbeiten. Da sind die jungen Menschen aus meiner Sicht uns weit voraus. Die haben sehr viel schneller und produktiver erkannt, wie sich diese Probleme lösen lassen. „Fridays for Future“ ist nur ein einzelnes Beispiel, es gibt viele andere. Aus meiner Sicht gibt es nicht die eine neue große Lösung, deswegen biete ich die natürlich nicht an.
Ich glaube aber schon, sich erst mal einzugestehen, dass man bisher auf einem falschen Weg war, das ist die Grundvoraussetzung, um überhaupt Lösungen gemeinsam erarbeiten zu können.“