Benjamin Myers: Offene See
Nach seinem Schulabschluss wandert der 16-jährige Robert Appleyard gen Süden. Fort aus der armen, kohlenstaubüberzogenen Bergbauregion Durham im Nordosten Englands. Die Unausweichlichkeit, sein Leben unter Tage zu verbringen, fern von Freude und Abenteuer, treibt den Ich-Erzähler an. Er hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und wandert „frei und hungrig“ durch das sommerlich erblühende Land. Das Land selbst ist eines der Hauptthemen dieses großartigen, überwältigenden kleinen Romans.
Ich folgte Pfaden durch wispernde Wiesen und zerfurchtes Gestrüpp, sprang über Steinmauern, stieg über Zauntritte. Das Land strömte jetzt in einem grünen Potpourri aus Feldern und Weiden dahin, durchzogen von staubigen Feldwegen und dicht mit Bäumen bestandenen Waldwiesen. Durch schattige Senken und Gräben rannen winzige, glasklare Wasseradern, plätscherten der salzigen Nordsee entgegen. […] Hier war der Ozean ein Tor, eine Einladung, und ich nahm sie bereitwillig an.
Intelligent und offen ergreift er die Chance, eine Zeit lang bei der unkonventionellen, gebildeten und lebenserfahrenen Dulcie zu bleiben. In einem berauschenden Sommer öffnet sie ihm die Türen zu Kultur, Lebensart und freiem Denken. Beide bereichern einander sehr, doch es geht keineswegs um Sex. Wein, Hummer und Literatur, gegenseitiger Respekt, die Überwindung alten Kummers und die Ermöglichung eines neuen Lebens sind vielmehr Konstanten und Ziel der glücklichen, fruchttragenden Monate.
Ein durchaus klassischer Bildungsroman, der 1946 in einem vom Krieg gezeichneten England spielt, und dessen Handlung und Held sich in vielfältigen literarischen Bezügen spiegelt. Es lohnt übrigens sehr, sich durch die (leider weitgehend unübersetzten) Gedichte des angesprochenen prä-viktorianischen Naturlyrikers John Clare zu kämpfen .