Frappierende Parallelen zu Corona-Zeiten

 Die Grippe und die Menschen von 1920

Vor hundert Jahren bereits hat ein winziger Krankheitserreger ganze Staaten und Kontinente befallen – Corona ist also nicht neu. Damals grassierte die sogenannte Spanische Grippe, an der nach den vorliegenden  Schätzungen bis zu 50 Millionen Menschen starben. Es handelte sich dabei um einen anderen Virus als Covid 19, aber die Parallelen zur derzeitigen Corona-Krise sind nicht zu übersehen, und deswegen umso erschreckender.
Das Schweizer Satire-Magazin „Nebelspalter”  Nr. 10 1920 veröffentlichte 1920 das Gedicht eines unbekannten Autors zu den damaligen Ereignissen. Das Gedicht klingt in Corona-Zeiten erstaunlich aktuell. Hinweis: Hippe =  Sense

 

Die Grippe und die Menschen

Als Würger zieht im Land herum
Mit Trommel und mit Hippe,
Mit schauerlichem Bum, bum, bumm,
Tief schwarz verhüllt die Grippe.

Sie kehrt in jedem Hause ein
Und schneidet volle Garben –
Viel rosenrote Jungfräulein
Und kecke Burschen starben.

Es schrie das Volk in seiner Not
Laut auf zu den Behörden:
„Was wartet ihr? Schützt uns vorm Tod –
Was soll aus uns noch werden?

Ihr habt die Macht und auch die Pflicht –
Nun zeiget eure Grütze –
Wir raten euch: Jetzt drückt euch nicht.
Zu was seid ihr sonst nütze!

’s ist ein Skandal, wie man es treibt.
Wo bleiben die Verbote?
Man singt und tanzt, juheit und kneipt.
Gibt’s nicht genug schon Tote?“

Die Landesväter rieten her
Und hin in ihrem Hirne.
Wie dieser Not zu wehren wär‘,
Mit sorgenvoller Stirne:

Und sieh‘, die Mühe ward belohnt.
Ihr Denken ward gesegnet:
Bald hat es, schwer und ungewohnt,
Verbote nur geregnet.

Die Grippe duckt sich tief und scheu
Und wollte sacht verschwinden –
Da johlte schon das Volks aufs Neu‘
Aus hunderttausend Münden:

„Regierung, he! Bist du verrückt –
Was soll das alles heißen?
Was soll der Krimskrams, der uns drückt,
Ihr Weisesten der Weisen?

Sind wir den bloß zum Steuern da,
Was nehmt ihr jede Freude?
Und just zuu Fastnachtszeiten – ha!“
So gröhlt und tobt die Meute.

„Die Kirche mögt verbieten ihr,
Das Singen und das Beten –
Betreffs des andern lassen wir
Jedoch nicht nah uns treten!

Das war es nicht, was wir gewollt.
Gebt frei das Tanzen, Saufen.
Sonst kommt das Volk – hört, wie es grollt,
Stadtwärts in hellen Haufen!“

Die Grippe, die am letzten Loch
Schon pfiff, siie blinzelt leise
Und spricht: „Na endlich – also doch!“
Und lacht auf häm’sche Weise.

„Ja, ja – sie bleibt doch immer gleich
Die alte Menschensippe!“
Sie reckt empor sich hoch und bleich
Und schärft aufs neu die Hippe.

Die Grippe und die Menschen. Vertontes Satire-Gedicht von 1920