Ein Wissenschaftler mit Netter Wurzeln gewährt Einblicke in sein Leben von der Kindheit bis zur Hochschul-Professur – historische Bilddokumente inklusive.
Der Nachsatz eines Kommentars zu unserem Beitrag „Baudenkmäler im Stadtbezirk (16)“ tat gut. Sein Wortlaut: „PS: MENGEDE:Intakt! ist eine großartige Seite.“
Und der Absendername weckte unsere Neugier: Prof. Dr. Wolfgang Leidhold, Seminar für Politische Wissenschaft, Universität zu Köln. Da sich Prof. Dr. Leidhold dann zudem noch als alter Mengeder und Netter „outete“, geboren am 12. Dezember 1950 in der Ammerstraße, danach wohnhaft in der Netter Gerokstraße, war klar, dass wir Näheres von ihm wissen wollten.
COVID 19 bestimmte, dass wir ihm die Tasse Kaffee nur symbolisch anbieten konnten. Aber bereits in unseren ersten E-Mail-Kontakten erlebten wir einen sympathischen und aufgeschlossenen Menschen, der sich auf unsere Bitte nach einem Interview bereitwillig zur Verfügung stellte. Und bei uns keimte so der Wunsch, statt bei einer Tasse Kaffee viel lieber – dann aber „analog“ – mit einem echten Pils, zur Not auch mit einem Kölsch, das gemeinsame Gespräch zu führen. Geht aber nicht (siehe oben).
Prof. Dr. Wolfgang Leidhold, leitet den Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte. Er hat sich als weitgereister und international anerkannter Wissenschaftler mit zahlreichen Veröffentlichungen auch als Philosoph einen Namen gemacht. Darüber hinaus hat er seiner Leidenschaft für die Malerei Raum gegeben. Seine Werke sind unter folgendem Link abrufbar:
MENGEDE:Intakt!
Herr Professor Dr. Leidhold, als Kind der Netter Kolonie war es in den 50er Jahren sicherlich eine Ausnahme, dass Sie die Chance hatten, ein Gymnasium besuchen zu dürfen?
Prof. Dr. Leidhold:
Wir (also unsere Generation und im Pott ja sowieso) waren allenthalben per „Du“ – soweit es mich angeht, können wir die Förmlichkeiten gleich lassen.
MENGEDE:Intakt! Einverstanden, mit dem „Du“ redet es sich einfacher.
Wolfgang Leidhold:
Zu Deiner Frage: Tatsächlich war es keineswegs eine Ausnahme, an’s Gymnasium zu gehen. Aus meinem Jahrgang haben viele diesen Weg eingeschlagen, darunter meine Freunde Detlef ‚Deti‘ Bohnenkamp, Ulli Sommer und Dieter Pensold. Aufstieg durch Bildung war immer Teil des Bewusstseins der Arbeiterklasse. Bereits mein Vater hatte dies vorgemacht: Er fuhr zur See, anstatt in den Pütt zu gehen, und wurde Schiffsoffizier bei der Handelsmarine.
Darüber hinaus war Kunst bei meinen Vorfahren von der slowenisch-tirolerischen Seite her eine alte Familientradition. Die Familie Schusterschütz hatte eine jahrhundertlange Tradition als Fresco-Maler und Künstler. Als fahrende Künstlerfamilie lebten sie zuerst in Domzale, später in Krain, dann in Rinn in Tirol, und gingen von ihrer Heimatstation aus alljährlich mit Sack und Pack auf Wanderschaft, um in Slowenien, Österreich und Ungarn Kirchen, Häuser und Herrensitze zu schmücken, oder Ölbilder (meist Porträts) auf Bestellung anzufertigen.
Noch vor dem 1. Weltkrieg gelang es Anwerbern der um Arbeitskräfte buhlenden Ruhrgebietszechen, die jungen Männer der Familie nach Dortmund zu locken. Einige von meinen Verwandten schafften es dann aber doch, die Schufterei unter Tage hinter sich zu lassen und zur Kunst zurückzukehren. Sie machten die Innendekoration, Ölbilder und andere Arbeiten für die „höheren Angestellten“ der Zechen.
Bilder meines Großonkels Karl Šusteršic (so die korrekte slowenische Schreibweise des eingedeutschten Namens) befinden sich im Dortmunder Stadtarchiv. Mit ihm starb diese Tradition zunächst aus (siehe folgender Link:)
100 Jahre Kriegsende, Stadtarchiv macht Geschichte lebendig
Die Familie hat hier in Westfalen in den Stamm der Böllings hineingeheiratet, Die Schwestern Schusterschütz heirateten die Brüder Bölling (alles Bergleute). Meine Mutter, Lydia Bölling (aus der ersten Nachfolge-Generation), heiratete Helmut Leidhold, meinen Vater (Familie aus Sachsen), den Schiffsoffizier der Handelsmarine, später Ingenieur auf Hansa (Huckarde). Allesamt eine fröhliche, sangesfreudige und abenteuerlustige Gesellschaft!
MENGEDE:Intakt!
Der Name Bölling ist bei den historisch beflissenen Nettern noch in bester Erinnerung. Gisbert Bölling, in den Jahren 1835 – 1854 Eigentümer des größten Bauernhofs und über fast zwei Jahrzehnte Gemeindevorsteher Nettes, profitierte damals beim Bau der Köln-Mindener Eisenbahn. Mit dem Verkauf von mehr als 100 Morgen Land und der Gestellung von 30 Gespannen, die er auf seinem Hof untergebracht hatte, machte er ein Vermögen, das er später in den Bau der heute noch existierenden und inzwischen in ein Wohnhaus umgewandelten „Bölling-Burg“ investierte.
Nur kurz und knapp: Deine berufliche Karriere führte Dich um die ganze Welt und würde an dieser Stelle das vorgegebene Format sprengen. Für alle, die mehr wissen wollen:
MENGEDE:Intakt!
Wo begann für Dich der „Ernst des Lebens“?
Wolfgang Leidhold:
Das begann in der Mengeder Dörpfeldschule (Anm. d. Red.: heute die Jeanette-Wolff-Schule am Mengeder Markt). Bis zum Abitur besuchte ich das Dortmunder Stadtgymnasium. Ich habe dann in Bochum studiert, danach ging’s in die USA nach Kalifornien an die Standford Universität. Dann 1978 kam ich nach Erlangen als Assistent, später als Professor nach Köln. Daneben hab ich als Maler eine Künstlerkarriere verfolgt, immerhin hat’s mich bis New York gebracht.
MENGEDE:Intakt!
Deine erste Adresse befand sich in der Ammerstraße. Es gab dort fast alles, was man für den Tagesbedarf benötigte. Obst und Gemüse, Drogerieartikel, Lebensmittel, Fahrräder und sogar ein Möbelgeschäft. Für die Einheimischen war das die „Kö“. Heute ist dort totale Ödnis eingekehrt. Erinnerst Du Dich noch an einige „Erlebnisse“ in der Netter „Shopping Mall“?
Wolfgang Leidhold:
Ein besonderes Erlebnis war immer der Besuch beim Schuhmacher. In den hinteren schummerigen Gefilden des Fahrradgeschäftes Mönnich wirkte er in einem dunklen Verschlag. Bei dem habe ich noch bis in siebziger Jahre meine Schuh besohlen lassen. Ich habe immer noch den Geruch nach „Kövulfix“, dem Klebstoff, in der Nase.
Einmal brachte ich ihm meine Lieblings-Slipper wieder, die er schon viele Jahre zuvor einmal runderneuert hatte. Und er sagte: „Na, die haben sich aber gut gehalten. Das ist ja schon fünf, sechs Jahre her, oder?“ Ich sagte erstaunt: „Ja, da waren Sie schon mal dran. Aber woher wissen Sie das noch, bei den vielen Schuhen, die Sie hier täglich in der Hand haben?“ Und er antwortete: „Na, ich werd doch noch meine eigene Arbeit wiedererkennen!“ Er war ein echter Schuh-Künstler.
MENGEDE:Intakt!
Im Jahr 1957 erwarben Deine Eltern ein neues Haus in der Gerokstraße in Nette. Dein Weg zur Grundschule war dann weiter, aber für Kinder war das im Bau befindliche Umfeld sicherlich auch ein Abenteuerspielplatz.
Wolfgang Leidhold:
Ja, es war ein echtes Abenteuerland! Unser Revier erstreckte sich von einem großen Obstgarten bis hin zum Buchenwäldchen, von dem jetzt nur noch wenige Bäume stehen. Heute liegt da das Netter Schulzentrum. Dort wo jetzt das Schwimmbad ist, gab’s eine große Wiese mit einem Sumpf mit einem kleinen Bachlauf. Im Winter konnte man Schlittschuh laufen. Im Winkel an der Mengeder Straße wohnte ein Einsiedler, in mitten eines Teiches auf einer kleinen Insel, auf der ehedem der alte Jüdische Friedhof stand.
MENGEDE:Intakt!
Was kommt Dir noch in den Sinn, wenn Du an Deine Netter Zeit zurückdenkst?
Wolfgang Leidhold:
Das sind natürlich die Abenteuer mit den Nachbarkindern Wolfgang und Frank, die immer noch in der Gerokstraße leben. Wir sind in den Bäumen herumgeturnt, haben Aussichtsplattformen in den Wipfeln gebaut, Höhlen in den Boden gegraben, mit der Eisenbahn gebastelt.
Auch der Gedankenaustausch mit unserem damaligen Gemeindepfarrer Kurt Stork war wichtig, zu dem auch nach meiner Konfirmation der Faden nicht abriss. Die Gespräche mit ihm haben sicherlich auch einen Teil zu meiner Sozialisation und späteren beruflichen Orientierung beigetragen. Und die Musik spielte eine große Rolle.
MENGEDE:Intakt!
Musizieren gehörte im Hause Leidhold ohnehin zum künstlerischen Repertoire?
Wolfgang Leidhold:
Musik war ein wichtiges Element für den familiären Zusammenhalt. Es wurde viel gesungen. Meine Mutter unterrichtete Gitarre. Ich spielte auf dem Klavier, mein Opa war Gründer des Volkschores Mengede. Meine Mutter hat mit 60 Jahren sogar noch eine Ausbildung zur Dirigentin absolviert und danach mehrere Kirchenchöre geleitet!
MENGEDE:Intakt!
Es ist Dir gelungen, neben Deiner wissenschaftlichen Karriere auch als Maler erfolgreich zu sein.
Wolfgang Leidhold:
Ich habe schon immer gern gezeichnet und gemalt. Bereits in meiner Gymnasium-Zeit war meinen Lehrern diese Begabung aufgefallen. Die Malerei ließ mich nicht los. Daher habe ich am Musischen Zentrum der Uni Bochum bei Hänner Schlieker, einem namhaften Künstler, Malerei studiert. Er bevorzugte die abstrakte Malerei, „das Informel“. Das Kunststudium lief parallel zu meiner wissenschaftlichen Ausbildung. Auf unseren Gruppenausstellungen im Bochumer „Haus der Freunde“ habe ich sogar einige der damaligen Arbeiten verkaufen können.
MENGEDE:Intakt!
Deine späteren Werke, die auch auf Instagram eingestellt sind, haben als Grundelement verschlungene Knotengebilde. Was ist der Hintergrund?
Wolfgang Leidhold:
Aus der griechischen Mythologie kennen wir die Sage vom Gordischen Knoten: Alexander der Große soll die kunstvoll verknoteten Seile am Streitwagen des phrygischen Königs Gordios mit einem Schwerthieb durchschlagen haben. Das Thema hat mich fasziniert. Und daraus wurde das erste Großformat – also über mehr als zwei Quadratmeter – das ich je gemacht habe. Das Bild kam in meine zweite Kölner Ausstellung und war bereits am Abend vor der Eröffnung verkauft. Ich habe dann das Thema „Knoten“ weiter verfolgt. Für jedes dieser Bilder fertige ich zunächst eine kleine Plastik an, die dient dann als Modell für’s Bild. Daran kann ich den Schattenwurf studieren. Der Knoten ist ein konkretes Gebilde, zugleich aber auch eine abstrakte Figur. Diese Verbindung von abstrakt und konkret lässt der Phantasie viel Raum. Die Knoten laden sich dann wie von selbst mit Sinn und Bedeutung auf.
MENGEDE:Intakt!
In Deiner Vorlesung zum Thema „Lebenskunst und Lebenskünstler“ (als Video abrufbar unter YouTube) gewinnt man den Eindruck, dass Du dabei nicht zuletzt auch Deine positive Lebenseinstellung durchblicken lässt. Deine Wertungen in dem von Dir dort präsentierten Koordinatensystem mit dem Titel „Lebenskunst im +/- Profil“ sind eine gute Orientierungshilfe.
Wolfgang Leidhold:
Wir müssen unsere Wahl immer selbst treffen. Da ist es vielleicht hilfreich, sich die Werte und Wünsche sichtbar vor Augen zu halten. Dann wird uns – hoffentlich – klarer, in welchen Feldern wir uns wiederfinden möchten.
MENGEDE:Intakt!
Der Lebenskünstler Prof. Dr. Leidhold hat sicher auch ein Motto, das wir unseren Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten wollen.
Wolfgang Leidhold:
Ich halte es mit einem alten lateinischen Ausspruch: „Fert unda, nec regitur. — Die Woge trägt, aber man kann sie nicht steuern!“
MENGEDE:Intakt!
Vielen Dank für das Gespräch.