Fressfeinde, Freischärler, Schizophrene
Peter Grohmann
In Kabul, schrieb meine Tageszeitung, kann man nur noch auf ein Wunder hoffen. Vielleicht meinen die ein Wunder der Vernunft. Da braucht’s Geduld und Geld für die Gotteskrieger auf allen Seiten. Ohne das alles seh‘ ich Wunder eher kritisch – es sei denn, auf einem Friedhof öffnen sich plötzlich die Sargdeckel und die Toten tanzen zu ihrer Auferstehung – Erdhebungen als Folge des Klimawandels fehlen bislang noch. Geduld! Wir wissen doch: Es gibt schon lange kein ewiges Eis mehr, außer von Langnese. Und das ist deutlich zu süß, aber nur wegen der Kinder.
Aber halt! Eine Kollegin der Heilbronner Stimme berichtete tatsächlich von einem Wunder! Sie hat den lieben Gott getroffen, ausgerechnet im Stuttgarter Hauptbahnhof, obwohl gerade gerechtigkeitshalber gestreikt wird. „Wenn Stuttgart-21 das Paradies auf Erden für Bauingenieure ist, ist Pradel so etwas wie der Türwächter und der liebe Gott in einer Person.“ (Stimme, 21.8.21). Michael Pradel, der u.a. den ersten Bahn-Oberleitungsmasten geweiht hat, arbeitet tagsüber als Technik-Chef im Paradies auf Erden – bei Stuttgart 21, dem Projekt mit dem Loch im Geldbeutel. Mein Gott, warum hast du uns verlassen und bist zu Bahn gegangen? Was kann schöner sein, viel schöner als Ruhm und Geld? Für mich gibt’s auf dieser Welt doch nur dich allein! Das sang Peter Alexander noch im hohen Alter.
„Peter“, sagte mir einst mein Freund Desmond Tutu, „vielleicht hilft dir unsere Erfahrung weiter: Wir schwarzen Südafrikaner hatten das Land, die Weißen die Bibel. Sie gaben uns die Bibel und baten uns, die Augen zu schließen. Als wir die Augen wieder aufmachten, war ein Wunder geschehen: Die Weißen hatten das Land, wir die Bibel.“
Wunder mit und ohne Bibel dauern bekanntlich etwas länger. In Afghanistan haben die schizophrenen Weißen aus den Freischärlern zuerst Fressfeinde der ruhmreichen Sowjetarmee gemacht und ihnen das Maul mit Geld und Waffen gestopft. Diese Praxis haben im Grund nahezu alle Parteien, die jetzt zur Wahl stehen, unterstützt, es aber inzwischen vergessen. Nun öffnen sich plötzlich die Sargdeckel. 60.000? Weiß Gott, vielleicht mehr. 100000? 300000?
„Wir sind auf der Welt, um die Wirklichkeit zu ändern“, schrieb mir meine Omi Glimbzsch ins Poesiealbum. Das hab‘ ich eingesehen, aber es dauert eben etwas länger. Wir sehen weiter beim Klimastreik am 24.9.2021.
Peter Grohmann * ist Kabarettist und Koordinator der AnStifter. Wir danken ihm für die Zustimmung zum Abdruck dieser Kolumne.
* peter-grohmann@die-anstifter.de