Was in der Coronakrise leider zu kurz gekommen ist – Von Krautreporter Bent Freiwald

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von Bent Freiwald – Krautreporter – zu Themen Bildung, Kinder und Jugendliche

Am Freitagabend war ich in einer sehr ehrlichen Kneipe in der Berliner Hermannstraße. Ein großes Schultheiss für 2,40 Euro. Fair. Der Abend war heftig und ging lang. Um sechs Uhr morgens waren wir betrunken. Der Abend in dieser Kneipe war wahnsinnig erleichternd. Ich lebe in einer 7er-WG. Niemand weiß, wie es sein kann, dass wir bisher von Covid verschont geblieben sind. Ich bin dreimal geimpft, hatte nach sehr viel Rückzug in den vergangenen Wellen psychisch mit der Isolation zu kämpfen, und denke heute: Wenn es mich jetzt, in der Omikronwelle, erwischt, dann ist das so.

Es gibt Teile der Gesellschaft, für die das undenkbar ist. Weil sie junge Kinder haben, für die die Stiko immer noch keine Impfempfehlung ausgesprochen hat. Weil sie Kinder mit Vorerkrankung haben, oder Kinder, die sich nicht impfen lassen können. Das allgemeine Aufatmen, das sich (auch bei mir) Bahnen bricht, steht im krassen Kontrast zu dem was diese sogenannten Schattenfamilien seit zwei Jahren fühlen: Ehrliche und persönliche Angst vor der Ansteckung, die Sorge um das Kind oder andere Familienangehörige. Mein persönliches Risiko schätze ich heute anders ein. Diese Familien aber können das nicht.

Am Freitagabend twittere eine Frau: “Wir haben in den letzten 4 Wochen 17 tote Kinder gehabt. 17 – in VIER Wochen. Und es geht immer schneller. Bis Oktober 21 hatten wir 27 tote Kinder, seit Oktober 38. Also in 4,5 Monaten mehr als in 18 Monaten. Insgesamt sind 65 Kinder verstorben. FÜNFUNDSECHZIG.”

Karin Prien, Bildungsministerin in Schleswig-Holstein, derzeitige Präsidentin der Kultusministerkonferenz und Stellvertreterin von Friedrich Merz in der CDU, antwortete so: “Bitte differenzieren: Kinder sterben. Das ist extrem tragisch. Aber sie sterben mit COVID_19 und nur extrem selten wegen COVID_19.”
Mittlerweile hat Karin Prien diesen Tweet und ihren Account gelöscht.

Auf Twitter gibt es unzählige Sammlungen dazu, warum und was genau an dieser Reaktion so empörend ist. Auch, ob sie überhaupt stimmt, was genau der Unterschied zwischen “mit Covid sterben” und “wegen Covid sterben” ist, und warum diese Unterscheidung bei Kindern mit Vorerkrankung kaum aussagekräftig ist. Es gibt Petitionen, die Priens Rücktritt fordern. Und natürlich kam es auch zu geschmacklosen Beleidigungen.

Karin Prien zog sich daraufhin von Twitter zurück. Sie schrieb: “Ich nehme mir einige Wochen Zeit, um darüber nachzudenken, ob und wie ich Twitter als Medium weiter zur Kommunikation nutze. Sie habe viele Termine, bei denen sie eine “andere Kultur” erlebe. “Auch kritisch und mit anderen Vorstellungen von den richtigen Lösungen, aber zivilisiert und mit Respekt im Umgang und an guten Lösungen interessiert.”

Das Problem: Aus einer Debatte über den Umgang mit Schattenfamilien (wichtig!) wurde so eine Debatte über den Umgang auf Social Media (zum tausendsten Mal?).

Deshalb zurück zur eigentlichen Diskussion: Die Ansteckung mit der Omikron-Variante verläuft in den jungen Altersgruppen nach bisherigen Erkenntnissen meist sehr milde. Nur: Kinder mit Vorerkrankungen haben diese Garantie nicht. Auch deshalb hat Priens Tweet Eltern von Risikokindern verletzt, hundertfach konnte man das lesen. Der Tweet klinge wie eine umschriebene Form von “Nun stellt euch halt nicht so an. Die Zahlen sagen: So gefährlich ist das alles nicht.”
Mehrere Politiker:innen sprachen sich in den letzten Wochen dafür aus, bei Lockerungen zuerst Kinder und Jugendliche zu berücksichtigen, auch Prien. Die Infektionszahlen sind in diesen Altersgruppen die höchsten. Gleichzeitig warnt Karin Prien vor einer „Kultur der Angst an den Schulen“. Man solle in den nächsten Wochen die Tests reduzieren und die Maskenpflicht bald abschaffen. Währenddessen sind Kinder in den jüngsten Altersgruppen die letzten in dieser Pandemie, die sich noch nicht impfen lassen konnten.

Für Risikofamilien bedeutet diese Kombination, dass ihr Risiko steigt, sich doch noch zu infizieren. Ihre Sorgen wachsen parallel zu diesem Risiko, während die Sorgen vieler anderer immer geringer werden. Wie schaffen wir es, diese extrem unterschiedlichen Gefühlslagen zusammen zu bringen? Vielleicht ist das eine der schwersten Fragen in der derzeitigen Pandemiesituation.
Hinter dem Shitstorm um Karin Prien steht eine größere Frage: Welche Gefühle sind zu diesem Zeitpunkt der Pandemie noch legitim? Priens Tweet suggeriert: Sorgen um Kinder mit Vorerkrankungen gehören nicht dazu.

Dabei wäre genau das jetzt wichtig. Auch das konnte man auf Twitter beobachten. Am Sonntagabend veranstalteten die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl und die Autorin Jasmina Kuhnke einen Twitter-Space (für die, die Twitter nicht nutzen: eine Art Live-Telefonkonferenz) zum Austausch und zur Aufklärung von Schattenfamilien. Im Durchschnitt hörten 1.500 Leute zu. Ihr könnt euch die Aufzeichnung hier anhören. Sie ist ruhig, empathisch, trostspendend, lösungsorientiert. All das hätte Karin Prien auch sein können.

Wir haben in den vergangenen zwei Jahren oft um Zahlen gestritten (Wie viele Tote? Wie viele verlorene Arbeitsplätze? Wie viele verlorene Euro?), aber wir haben nur selten darüber gesprochen, was uns in dieser Krise Halt geben kann. Karin Prien hätte trösten können, weil besorgte Menschen keine Gegner sein sollten. Das ist eine Art der Politik, die in der Corona-Krise leider zu kurz gekommen ist.