Mal die Luft anhalten – Eine Kolumne von Klaus Commer

Mal die Luft anhalten!

Von Klaus Commer *

Die Situation ist angespannt. Ein Wort gibt das andere. Vorwürfe prasseln aufeinander. Einer, der es gut meint, schreit lauthals dazwischen: “Jetzt haltet mal die Luft an!” Wenn das so leicht wäre.
Jedenfalls ist das nur eine Lösung auf kurze Zeit. Anderthalb Minütchen, das haben wir schon als Kinder trainiert. Nase zu oder Kopf unter Wasser. Südsee-Taucher halten Rekorde von bis zu 10 Minuten. Spätestens dann setzt sich der Atemreflex gegen die Willensstärke durch.

Auf die Frage, auf was man im Leben niemals verzichten möchte, fällt den Wenigsten das Wichtigste ein: die Atemluft. Dabei saugen wir sie ohne Unterlass ein und pusten sie Sekunden später aus. Den Takt setzt das Gehirn bei Tag und Nacht fast immer ohne Befehl.

Das Wichtigste? Es gibt unglaublich viele Antworten, die erst nach dem Atmen eine Rolle spielen: Leben und Liebe, Familie und Haus, Beruf und Hobby, Frieden und Freunde, Geld und was immer gefällt… Zu alledem braucht es einen langen Atem. Unsichtbare Luft, die unsere Lebensenergie ständig neu zusammensetzt: 93 bis 97% Sauerstoff führt sie in den Lungenbläschen dem Blut zu, damit Geist und Geselligkeit intakt bleiben. Bei zu viel Kohlendioxid droht Bewusstlosigkeit. 

Doch für Sekunden kann die sprichwörtliche Atempause von großem Nutzen sein. Schlagartig schränkt das Anhalten der Luft ein Empfinden von Schmerz aus. Egal, ob man anstelle des Nagels den eigenen Finger trifft, egal, ob dir eine Beleidigung oder ein unverschämtes Argument die Sprache verschlägt, egal, ob ein Folterknecht die Daumenschrauben anzieht oder die Röntgenassistentin anordnet: “Bitte die Luft anhalten!”: Ein kurzer Atemstillstand signalisiert dem Gehirn: Moment, halt aus! Kinder wissen, das manche Mütter alle Schmerzen der Welt dann einfach wegblasen. 

Die hebräische Bibel erzählt im Schöpfungsmythos, dass das erste Einatmen dem aus Lehm geformten Menschen noch nicht als reflexartig gelang. Gott schuf blies ihm “Ruach”, den Atem des Lebens, schlicht in diese Nase.

*Klaus Commer hat kath. Theologie studiert, danach aber lange Zeit als Pressesprecher der damaligen Pädagogischen Hochschule Ruhr gearbeitet, später nach der Fusion der PH Ruhr mit der Uni Dortmund in gleicher Funktion an der Universität Dortmund. Er hat sich damals als Sprachrohr aller Gruppen der Hochschule verstanden, sehr zum Ärger einiger konservativer Hochschullehrer. Denn er war politisch links orientiert und wäre gerne praktizierender Kommunist gewesen – nicht einer Marke Stalin oder Ulbricht, sondern eher der Marke Fidel Castro.
Trotz seines fast biblischen Alters trägt er immer einen Sack voller Ideen mit sich herum und kann sie, wenn es gut läuft, in exzellente Texte und Taten umsetzen.
Den LeserInnen von MENGEDE:InTakt! ist er im letzten Jahr durch die Kolumne bekannt geworden: „Die Zahl des Monats“ (K.N.)