Buchempfehlung des Monats September 2022

Mario Lars Bücher

Alain Claude Sulzer      –     Doppelleben

Den Namen Goncourt verbindet man heute in erster Linie mit dem seit 1903 alljährlich in mittlerweile mehreren Kategorien verliehenen Prix Goncourt, der als bedeutendster Literaturpreis Frankreichs gilt. Die Namensgeber, die Brüder Jules und Edmond de Goncourt, sind vor allem durch ihr zunächst gemeinsam herausgegebenes, nach Jules‘ Tod von seinem Bruder allein fortgeführtes Tagebuch (1851 bis 1896) bekannt. Ihre Romane indes sind weitgehend vergessen. Der Schweizer Autor Alain Claude Sulzer hat sich bei seinem Buch weitgehend auf dieses umfangreiche Tagebuch gestützt.

Ein „Doppelleben“ führten die zwillingsgleich lebenden Brüder in der Tat. Sie lebten zusammen, beschlossen untrennbare Junggesellen zu bleiben, um sich ganz ihrem gemeinsamen Werk, der Versprachlichung ihrer gesellschaftlichen Beobachtungen zu widmen.
Auch ihr gesellschaftliches Auftreten geschah stets im Doppelpack. Sogar ihre Ignoranz jedweder Musik, die bis zur lustvoll zelebrierten „Musikverachtung“ reichte, wurde in Gemeinsamkeit zelebriert:
„Ihre Gedanken überschnitten sich ständig, was beiden bewusst und schon oft Gegenstand ihres nie abreißenden Gesprächs war… Es gab keine Unstimmigkeiten zwischen ihnen, die gab es nie.  Es war als hätten sie ein Herz, eine Seele, einen Verstand… Manche hielten sie für Zwillinge, auch wenn Edmond unverkennbar älter war als Jules. Unterbrach sich der eine mitten im Satz, um zu überlegen, nahm der andere den Faden auf, als wären sie einer. Sie waren ja eins.“
Das zweite „Doppelleben“ führte ihr Hausmädchen Rose, das zu Romanbeginn bereits durch Pélagie ersetzt ist. Die absolut grauenhaft kochende Rose hatte eine heimliche Liebschaft, die ihr ganzes Leben prägte. Sie bekommt unbemerkt von ihren Dienstherren ein Kind, beginnt zu trinken und betrügt die beiden grenzenlos. Als sie einen grauenhaften Tod stirbt, fragen sich die Brüder schockiert, wie dieses Drama unbemerkt direkt vor ihren Augen geschehen konnte, ohne dass sie, die scharfsinnigsten Beobachter von Paris, auch nur das Geringste bemerkt haben.

Die Stärke des Romans liegt in der Präzision der Beschreibung des doppelten Sterbens. Denn auch Jules Verfall und Tod wird großartig protokolliert. Als Zwanzigjähriger hatte er sich bei einer Prostituierten mit Syphilis angesteckt und nachdem zunächst jahrelang nichts zu passieren scheint, setzt ein langanhaltender zunächst physischer Zerfallsprozess ein, der über zunehmende Bewegungsstörungen zur Demenz mit letztlichem Sprach- und Bewusstseinsverlust führt. Der überlebende Edmond muss sich als Mensch und auch seine Rolle als Schriftsteller neu finden.

Der vielfach gelobte Aspekt des Epochenportraits wird meiner Ansicht nach am interessantesten ausgestaltet, wenn im Schlussabschnitt die Auswirkungen des deutsch-französischen Kriegs dargestellt werden.

Ein komplexes und doppelt lesenswertes Buch.

Hella Koch – Buchhandlung am Amtshaus