Denkmal des Monats Januar 2023

Ein Stehrümchen aus der Asche – ein archäologischer Fund aus der Reinoldistraße

Stehrümchen aus der Reinoldistraße

Durch die Neuverlegung von Leitungsrohren für das klimafreundliche Fernwärmenetz von DEW21 werden besonders in der Innenstadt immer wieder spannende Funde und Befunde freigelegt. Neben Zeugnissen, die einen Zeithorizont von der Jungsteinzeit bis in das Mittealter abdecken, finden sich unter dem modernen Pflaster zahlreiche Hinterlassenschaften aus der jüngsten Geschichte der Stadt. So auch in der Reinoldistraße, wo die Archäolog*innen bei den Erdarbeiten eine nahezu vollständig erhaltene Porzellanplastik bergen konnten. Zusammen mit den neuen Ergebnissen aus den nun abgeschlossenen Recherchen zu dem Fund, kürt die Denkmalbehörde der Stadt Dortmund diesen besonderen Fund als Denkmal des Monats Januar.Von Trümmern bedeckt
Es gehört zum Tagesgeschäft der Archäolog*innen, die alle Bodeneingriffe in der Innenstadt begleiten, um die Geschichtspuren zu dokumentieren und zu bergen: Das Herauslesen von Porzellan, Emaille-Töpfchen oder auch Glasflaschen aus den zerstörten und mit Kriegsschutt verfüllten Kellern. Denn mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs lag die Innenstadt in Schutt und Asche. Im Zuge des Wiederaufbaus wurden etliche Straßenzüge aufgeweitet und dadurch die Keller der zerstörten Gebäude überprägt. So war es nicht verwunderlich, als jüngst bei den Erdarbeiten in der Reinoldistraße in der Nähe der Stadtkirche St. Reinoldi etwas Helles zwischen den roten Ziegeln aufblitzte. Schnell war den Fachleuten klar: Bei dem, was dort vor Ihnen im Schutt lag, konnte es sich nicht um ein Teller- oder Tassenfragment handeln, auch wenn der Gegenstand offensichtlich aus Porzellan war. Das Team der Firma LQ-Archäologie staunte nicht schlecht, als sich der behutsam freigelegte Gegenstand als nahezu vollständig erhaltene Vogelfigur aus Porzellan präsentierte. Denn obwohl die Vogelplastik vollständig unter Erdmaterial und Schutt begraben war, wies sie lediglich an der Schwanzfeder eine Beschädigung auf.

Dinge die die Welt nicht braucht – ein „Stehrümchen“
Auch heute sind Porzellanplastiken wie diese in vielen Wohnungen dekorativer Bestandteil. Von manchen Menschen werden diese Gegenstände oft spöttisch oder liebevoll „Staubfänger“, „Dinge, die die Welt nicht braucht“, „Nippes“ oder „Stehrümchen“ genannt, eben Dinge, die nur herum stehen und sonst keinen besonderen Zweck haben.
Bei dem rund 35 cm langen und etwa 20 cm hohen Stehrümchem aus dem Keller unter der Reinoldistraße handelt es sich um eine verkleinerte Abbildung eines Adlers, vermutlich eines Seeadlers, wie eine Ornithologin feststellte: „Er müsste graue Federn haben. Die reine weiße Fassung ist die Freiheit des Porzellankünstlers.“ Was auf den Fotos wie Teile einer Bemalung aussieht, sind die Reste von Erde und Asche, die sich festgesetzt haben. An einigen Stellen durchziehen auch feine Risse, sogenannte Krakelüren, die Glasur.

Signatur

Eine Krone, ein G und W
Nach der ersten Reinigung des Fundes stellte sich die Frage nach dem Alter und der Herkunft der Plastik: Denn sicher war nur, dass sie vor dem Bombenangriff entstanden sein musste, der das Haus im Zweiten Weltkrieg zerstörte. Doch war sie womöglich eine „Antiquität“ aus dem 19. Jahrhundert? Handelte es sich um einen bekannten Künstler oder einen namenhafte Manufaktur?
Der grimmig-martialische Habitus ließ nur vermuten, dass der Vogel aus den 1930er Jahren stammt. Ein Blick unter den Sockel der Vogelplastik lieferte die ersten Hinweise. Denn die vorhandene Signatur unter dem Sockel zeigt eine stilisierte Krone und die miteinander verschlungenen Buchstaben G und W. Die nachfolgende Recherche ergab: In den 1930er Jahren war dies das Markenzeichen der Porzellanfirma Goebel. Sie war im Januar 1871 durch Franz Detleff Goebel und seinen Sohn William Goebel in Oeslau, also etwa 400 Kilometer von Dortmund entfernt, im Herzogtum Sachsen-Coburg-Gotha als Manufaktur gegründet worden. Die erste Porzellanfabrik entstand nur sieben Jahre später, 1878 unter dem Namen „Wilhelmsfeld“. Goebel war damit eine von mehreren bedeutenden Porzellanfabriken, die vor allem im 19. Jahrhundert im Gebiet Nordbayern – Thüringen entstanden. Dabei lag der Schwerpunkt der Firma Goebel auf der Herstellung dekorativer Porzellanfiguren. Wie die unseres Fundstücks.
Grund für die Wahl des Firmensitzes war sicherlich die besondere Qualität und Quantität des in der Region anstehenden Kaolin. Bei dem auch als Porzellanerde oder weißen Ton bezeichneten Mineral handelt es sich um einen der wichtigsten Grundstoffe für die Herstellung von Porzellan und weißbrennendem Steinzeug.

Zwischen dem Herzogtum Sachsen-Coburg-Gotha und den USA
Mindestens zwei Mal hat die Weltgeschichte das Wohl und Wehe der Firma Goebel beeinflusst. Nach Abschaffung der Monarchie zerfiel das Herzogtum Sachsen-Coburg-Gotha 1919 in zwei Hälften. Während Gotha zum neuen Land Thüringen kam, entschieden sich die Bewohner von Sachsen-Coburg zur Angliederung an Bayern. In der Folge wurde Oeslau später Teil der Bundesrepublik, die Firma blieb weiter in Privatbesitz. Nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 brach die Nachfrage nach Porzellanfiguren drastisch ein. Bis dahin waren die USA der Hauptabnehmer der Produkte der Firma Goebel. Dank verschiedener Konsolidierungsmaßnahmen gelang es jedoch, den Fortbestand der Firma bis heute zu sichern.

Dunkles Schicksal
Die Recherchen zu dem Porzellanadler sind mittlerweile abgeschlossen. Während dank der Signatur neue Erkenntnisse über das Alter und die Herkunft des Fundes gewonnen werden konnten und der Dortmunder Fund damit auch auf die langjährige die Geschichte seiner Produzenten hinweist, bleibt seine „eigene“ Geschichte im Dunkel.
Wahrscheinlich wurde die Plastik während einer der Bombenangriffe auf Dortmund im Zweiten Weltkrieg verschüttet. Da es sich nicht um ein Unikat handelt, spiegelt der Fund in gewisser Weise lediglich den Zeitgeschmack der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wider. So wenig, wie wir darüber wissen, wem es gehörte – stand das Stehrümchen in einer Privatwohnung oder zierte es ein Büro? – so rätselhaft bleibt die Frage, warum es in solch gutem Zustand überdauern konnte. War es schon vorher in Sicherheit in den Keller gebracht worden, weil man sehr an diesem Vogel hing? Oder war es im Gegenteil als ungewünschte Dekoration ausrangiert und abgestellt worden und sollte später entsorgt werden? Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt.

Redaktionshinweis:
Bei dem vorstehenden Denkmal des Monats Januar 2023 handelt es sich um einen Nachtrag.

Quelle: Pressetelle der Stadt Dortmund; Fotos: Ingmar Luther, Untere Denkmalbehörde Dortmund,