Stiller Rückzug aus der Schule: Wenn die Angst die Macht übernimmt

Die Psychologinnen Anne Meisborn (l.) und Dr. Claudia Schauerte gehören zu dem Team, das mit einem Preis für den Handlungsleitfaden Dortmunder Handlungsleitfaden „Schulabsentismus wirksam begegnen“ ausgezeichnet wurde.
© Stadt Dortmund / Markus Kaminski

Psychologinnen aus der Fachstelle für Schulabsentismus kümmern sich um junge Menschen in Dortmund, die den Schulbesuch verweigern

Ihr Platz in der Schule bleibt leer – für Tage, für Monate, manchmal für Jahre. Die Wissenschaft nennt sie Schulabsentist*innen, der Volksmund spricht von Schulschwänzern. Gemeint sind Kinder und Jugendliche, die regelmäßig oder lange Zeit im Unterricht fehlen.

Anne Meisborn: „Wer häufig und zu lange fehlt, läuft Gefahr, seinen Abschluss nicht zu schaffen.“
© Stadt Dortmund / Markus Kaminski

Anfang 2024 hat die Stadt Dortmund dafür eine Profi-Einheit gegründet. Die Mitarbeiterinnen der Fachstelle Schulabsentismus kümmern sich um besonders schwere Fälle: Sie sprechen mit betroffenen Schülerinnen und Schülern, helfen deren Eltern beim Verstehen der Situation, arbeiten mit den beteiligten Institutionen wie Schule und Jugendamt eng zusammen und vermitteln Hilfe in die unterschiedlichsten Bereiche.

Gleiche Grundlagen, gleiches Handeln

Die Fachstelle Schulabsentismus gehört zur Schulpsychologischen Beratungsstelle der Stadt. Sie koordiniert zusammen mit dem Jugendamt ein ganzes Netzwerk in Dortmund, das sich um Schülerinnen und Schüler kümmert, die zu oft und zu lang in der Schule fehlen. „Unser Ziel ist es, dass alle Partner*innen in dem sensiblen Bereich die gleichen Grundlagen haben und unsere Vorgehensweisen abgestimmt sind“, sagt Anne Meisborn, die gemeinsam mit einer Kollegin die Schulpsychologische Beratungsstelle leitet.

Das Netzwerk existiert seit 2021 und hat gemeinsam einen Plan erarbeitet. Darin geht es um  Hintergrundwissen, praktische Hilfen und Unterstützungsmöglichkeiten für alle Beteiligten. Das können Lehrer*innen sein, Eltern, Ärzte, Mitarbeitende beim Jugendamt oder auch Polizist*innen. Im Oktober 2024 hat das Team mit dem Dortmunder Handlungsleitfaden „Schulabsentismus wirksam begegnen“ einen Preis im renommierten BUKO-Wettbewerb „Schulpsychologie im Aufbruch“ gewonnen.

Am vergangenen Freitag (21. März) hatte die Schulpsychologische Beratungsstelle zu einer Fachtagung eingeladen. 250 Fachleute waren gekommen, um über den Dortmunder Handlungsleitfaden „Schulabsentismus wirksam begegnen“ zu diskutieren.

dortmund.de/schulabsentismus

 

Dr. Claudia Schauerte: „Was die Kinder in der Schule hält, sind die Beziehungen.“
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Die Schulpsychologinnen im Interview 

Mit den Psychologinnen Anne Meisborn (48) und Dr. Claudia Schauerte (49) haben wir über Ursachen und Lösungsstrategien gesprochen, wenn Kinder in Dortmund nicht mehr zur Schule gehen wollen oder können.

Frage: Was unterscheidet Schulschwänzer*innen von Schulabsentist*innen?

Schauerte: Erstmal nichts. Beide bleiben der Schule fern. Unter Schulabsentismus zählt für uns jedes Fehlen. Beispielsweise auch wegen einer Krankheit.

Frage: Sie meinen Kinder, die wegen einer schweren Krankheit lange ausfallen?

Meisborn: Die fallen hier auch rein, aber Krankheit ist generell ein enormer Faktor. Stellen Sie sich vor, ein Kind fehlt pro Halbjahr zehn Tage. Grippe, Magen-Darm… Die Tage kommen schnell zusammen. Bis zum Ende der Schulpflicht mit der 10. Klasse fehlt dem Kind in Summe ein komplettes Schuljahr.

Frage: Kann man Schulabsentismus über die Länge der Fehlzeit definieren?

Diplom-Psychologin Anne Meisborn
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Meisborn: Nein, das wäre nicht sauber. Jeder Fall ist individuell. Wir sprechen von Schulabsentismus, wenn das Fehlen zum Problem wird. Die Kinder und Jugendlichen verpassen jede Menge Schulstoff. Schlimmer ist aber, dass sie den Kontakt zu ihren Freundinnen und Freunden in der Schule verlieren. Plötzlich fühlen sie sich so, als gehörten sie da nicht mehr hin. Es ist es für sie völlig klar und logisch, nicht mehr zur Schule zu gehen.

Frage: Ist Schwänzen dann der Einstieg in den Schulabsentismus?

Meisborn: Zumindest kann es ein Einstieg sein. Es gibt Jugendliche, die machen es sich zuhause nett und bequem. Und nach einer gewissen Zeit fällt es ihnen so schwer, wieder in die Schule zu gehen, dass sie es einfach lassen.

Frage: Nun, da sind doch wohl die Eltern gefragt…

Meisborn: Ja, das hören wir immer… Und in der Theorie ist das natürlich richtig. Die Realität sieht aber oft so aus: Ein Siebtklässler schließt sich seit Wochen in seinem Zimmer ein und zockt unkontrolliert Onlinespiele. Seine Mutter ist alleinerziehend und berufstätig. Sie hat Wechselschichten. Oft bekommt sie gar nicht mit, dass er nicht zur Schule geht. Wenn sie da ist, ignoriert er sie. Wenn sie ihm was verbieten will, wird er aggressiv. Und natürlich möchten man ihr zurufen: Nimm‘ ihm den Zimmerschlüssel ab und schalt‘ das WLAN aus. Aber für die Mutter ist die Situation zermürbend. Am Ende fehlt ihr dafür einfach die Kraft…

Frage: Was kann sie tun?

Meisborn: Wenn bis hier hin alles nach unserem Handlungsleitfaden gelaufen ist, dann ist ab den ersten Fehlzeiten schon viel passiert: Dann haben die Lehrer*innen das Fehlen des Jungen dokumentiert, haben zur Mutter Kontakt aufgenommen, gemeinsam Lösungen gesucht und bei Bedarf auch das Jugendamt mit einbezogen. Die Mitarbeiter*innen leisten der Mutter auf Wunsch dann Hilfen zur Erziehung. Manchmal sind familiäre Beziehungen so kompliziert geworden, dass nur ein Profi Lösungen aufzeigen kann.

Frage: Und was ist mit der Polizei? Müsste sie bei dem Jungen nicht die Schulpflicht durchsetzen?

Schauerte: Ja, die Fälle gibt es auch, allerdings nur in Verbindung mit weiteren Auffälligkeiten. Es kommt schon einmal vor, dass das Ordnungsamt Schüler*innen in die Schule bringt. Diese Art der Durchsetzung der Schulpflicht passt jedoch nur selten auf die Fälle, mit denen wir in der Praxis zu tun haben.

Frage: Warum nicht?

Meisborn: Oft sind Ängste der Grund, warum junge Menschen nicht mehr zur Schule gehen wollen. Deshalb ist es für uns so wichtig, dass wir zunächst einmal verstehen, warum eine Schülerin oder ein Schüler nicht mehr zur Schule kommt. Die Ängste können ganz real sein: Mobbing ist ein großes Thema. Es wäre unverantwortlich, einen jungen Menschen, der sich vor Schule, Lehrer*innen oder Mitschüler*innen fürchtet, vom Ordnungsamt zur Schule zerren zu lassen. Die Ängste können aber auch irrational sein: Angst, krank zu werden. Angst, anders als die anderen zu sein, nicht zu genügen.

Schauerte: Ich hatte mal eine Schülerin, die ist fast drei Jahre lang nicht zur Schule gegangen. Sie hatte tolle Eltern, war im Sportverein, sie war gut in der Schule. Dann ist die Familie umgezogen, das Mädchen musste die Schule wechseln. Da begannen die Probleme. Sie fühlte sich unwohl, fragte sich: Wie wirke ich auf andere? Was denken die? Diese Gedanken wurden einfach zu groß. Im Umfeld konnte ihr das keiner nehmen. Sie blieb immer öfter weg. Es gab ihr schließlich ein gutes Gefühl, nicht mehr in den Klassenraum zu gehen. Sie ist an der Herausforderung zusammengebrochen, in der neuen Klasse Beziehungen aufzubauen.

Frage: Was hätte ihr helfen können?

Schauerte: Teil einer Gemeinschaft zu sein, eine Rolle zu haben. Was die Kinder in der Schule hält, sind die Beziehungen. Da sind die Klassenkamerad*innen gefragt, aber auch die Lehrer*innen. Mehr Verständnis statt Vorwürfe, offene Arme. Das gilt für diesen Fall, das gilt aber auch für die allermeisten jungen Menschen, für die das Fehlen in der Schule problematisch wird.

Frage: Von wie vielen Fällen von Schulabsentismus in Dortmund sprechen wir denn pro Jahr?

Meisborn: Das ist schwer zu sagen. Das digitale Klassenbuch setzt sich erst jetzt durch. Bislang wurden die Klassenbücher handschriftlich geführt. Die korrekte Erhebung der Fehlzeiten ist also äußerst kompliziert.

Schauerte: 5616 Schülerinnen und Schüler sollten im Schuljahr 2022/23 ihren Abschluss machen. 560 von ihnen haben ihre Schulen ohne einen Abschluss verlassen.

Frage: Wie viele von diesen 560 zählen Sie zu den Schulabsentist*innen?

Meisborn: Zunächst mal ist die Zahl insgesamt alarmierend. Ohne eine Einzelfallbetrachtung können wir daraus aber keine Quote ableiten. Unsere Erfahrung zeigt aber: Wer häufig und zu lange fehlt, läuft Gefahr, seinen Abschluss nicht zu schaffen.

Frage: Was muss gemacht werden, um die Zahlen zu senken?

Meisborn: Wir brauchen in den Schulen mehr Zeit und Aufmerksamkeit für das Thema. Die Lehrer*innen sind die ersten, denen es auffällt, wenn ein Kind zu oft fehlt. Aus Gesprächen wissen wir, dass ihnen neben der Vermittlung von Inhalten kaum Zeit für andere Dinge bleibt. Hier wäre es aber so wichtig: Wenn sie erkennen, dass ein Kind aus dem Raster fällt, dann müssen sie dem Kind zuhören. Sie müssen seine Sorgen ernst nehmen. Und sie müssen mit Eltern und Netzwerkpartnern sprechen. Das ist wirklich gut investierte Zeit, weil sie so dafür sorgen können, dass sich ein junger Mensch nicht vom System Schule abwendet.

Außerdem wäre es wichtig, dass es mehr Hilfsangebote für jüngere Kinder gibt. Schulabsentismus ist kein Problem, das erst mit der Pubertät beginnt. Schulabsentismus gibt es ab der ersten Klasse. Hier benötigen wir individuelle Angebote, in denen die Kinder lernen, dass Schule schön ist, dass es sich lohnt, wieder zur Schule zu gehen.

Frage: So, jetzt haben wir sehr viel über andere gesprochen. Wie war es denn bei Ihnen selbst? Hand aufs Herz, wann und wo haben Sie am meisten geschwänzt?

Schauerte (lacht): So gut wie nie. In der elften Klasse hin und wieder mal Sport…

Meisborn: Eigentlich gar nicht. Nein, ich wäre eher vor Stress gestorben, wenn ich unentschuldigt gefehlt hätte…

Danke für das Gespräch!

Quelle: Pressestelle der Stadt Dortmund