Danke, Soldat!

Peter Grohmann
Er hatte eine lange Weidengerte in der Hand und stand auf der Ladefläche des Lastwagens. Mit der Gerte dirigierte er die Kinderschar, die schreiend und außer Rand und Band das Lastauto stürmen wollte. „Kleba! Kleba! Kleba!“ riefen sie, die Hände himmelwärts gestreckt. Und er schrie: „Stoj! Stoj! Stoj!“ Er hieß Sascha, kam über Umwege aus Odes, wie Odessa bei den Juden genannt wird, und hatte mit der 322. Infanteriedivision der 60. Armee der Sowjetunion Auschwitz befreit. Gerade eben hatte er auch Breslau befreit.
In den Tagen des Mai, vor 80 Jahren, herrschte Aufruhr, Revolte, Heil Hitler, Chaos, Vergewaltigung, Mord, Totschlag, Vernichtung in der alten Stadt. Deserteure und Zwangsarbeiter, Marodeure, Plünderer, Hungerleider, alles, was die Hölle ausgekotzt hatte: zurück im Leben. Aber was für eins! Die meisten der rund 650.000 Einwohner hatte NSDAP-Gauleiter Karl Hanke in die Flucht getrieben, süd- und westwärts, bevor er mit dem geklauten Goldschatz und seiner Mätresse mit einem Fieseler Storch dem Untergang des Großdeutschen Reiches entgegenflog.
Breslau hatte alles: 50 Prozent für die NSDAP, ein eigenes KZ, das Standrecht, eine satte bürgerlich-fast-liberale Mitte, die drauf pfiff, wenn Nachbarn abgeholt wurden, Karl Bonhoeffer, Maya Lasker-Wallfisch, Gertrude Stein, Anna Glimbzsch, Paul Ehrlich, Max Born, Clara Immerwahr, Heinrich Alberts, Renate Riemeck, mich und Sascha Zukerman, den Juden aus Odessa, den mit der langen Weidengerte auf dem Russen-Lkw.
Breslau hatte einen Hafen, einen Flugplatz und 100 bis an den Rand gefüllte Lagerhäuser mit Zucker und Mehl und Fetten und Kartoffeln, Breslau war Festung und wollte auf Teufel komm raus nicht befreit werden, weder am 1. noch am 8. Mai. Vor 80 Jahren stürmten die Überlebenden, Nazis und ihre Gegner, Lagerhäuser, Keller, Wohnungen, Kaufhäuser, Markthallen: Hungernde und Schieber, Groß- und Kleinkriminelle, Dealer.
Vor 80 Jahren fuhren Lkws der Russen, Sascha am Steuer, in die Vororte der Stadt, etwa in den Süden, etwa nach Krietern, verteilten Brot, Kleba, Kascha für die Kinder. Ich war der Kleinste, sieben Jahre alt. Mindestens 13.000 sowjetische Soldaten kamen beim Kampf um Breslau ums Leben.
Wollt‘ mal kurz danke sagen.
Peter Grohmann * ist Kabarettist und Koordinator der AnStifter. Wir danken ihm für die Zustimmung zum Abdruck dieser Kolumne.
* peter-grohmann@die-anstifter.de