Die Kurzgeschichte der Woche

Die Kellnerin

Kurzgeschichte von Wolf Wiens*

Sie schob die zweite Unter­tasse unter die erste. Sie dachte aber nicht weiter darüber nach. Sie musste ja den Tisch ab­räumen und so machte sie es nun mal. Sie legte die dritte auf die zweite und da­nach folgten alle anderen Un­tertassen. Auf die linke Seite des Untertassen Türmchens legte sie die Kuchengabeln.

Auf die rechte kamen diese kleinen Kaffee- oder Teelöffel mit den verspielten, kleinen Griffen. Die Kuchen­teller fügte sie ha­stig zu einem weiteren Türmchen zusammen.

Wenige Kunden verlangten Suppe. Doris kochte dann ein wenig Wasser auf und goss das Wasser auf wohlschmeckende Pul­verhäufchen, die sie aus silber-gräulichen Tüten ausschüttete.
Doris ging zum Tresen zurück und schob ihr Ta­blett auf den Kuchentresen, wo ein leicht dunkel­häutiger Inder auf sie wartete und sie ihm alles zum Spülen gab. Sie nannte ihn Chris, weil sie den Namen mochte und seinen richti­gen wohl indischen Namen nicht aus­zusprechen vermochte. Jeden­falls war er hübsch genug um Chris zu heißen.

Sie ging dann in den Saal zurück, wenn sie nicht neue Be­stellungen bei Chris entge­genzunehmen hatte und auch noch genügend Wechselgeld bei sich hatte. Sie mochte es nicht, Kun­den warten zu lassen, da sie ja aufbrechen wollten und diese dann gar nicht wussten, was sie mit der Zeit an­fangen sollten, so­lange sie Wechsel­geld be­sorgte. Sie ging also in den Saal zu­rück und bemerkte einen unscheinba­ren, weil unauffälligen Herrn, der langsam seinen Kaffee schlürfte und dabei seinen Käse­kuchen verdaute: Es sah nicht so aus, als ob er noch etwas bestellen wollte und eigent­lich hatte er auch nur kurz zu ihr aufgeschaut.

Dieser Herr – Schulz hieß er – kam öfter. Sie wusste nicht viel von ihm. Sie wusste sicherlich auch noch, dass er gerne Kä­sekuchen isst – sie brachte ihm ja eigent­lich immer Käsekuchen.
Es hätte aber noch ein anderer Herr da sitzen können, der Käsekuchen mochte und nicht Schulz war. Dieser Herr war auf jeden Fall Schulz, denn unverkenn­bar trug nur er immer diesen grau­melierten Mantel, hatte dar­unter kein Jackett an und trug eine ebenso grau­melierte Hose – auch die trug er immer.
Hatte Schulz seinen graumelierten Mantel abge­legt, setzte er sich immer – wirk­lich immer – neben die et­was kitschig anmutende Gummi Palme. Andere würden vielleicht nicht meinen, dass die Palme kitschig sei. Schulz fand sie be­stimmt auch nicht kit­schig, sonst würde er sich nicht immer zu ihr setzen. Er saß wirklich immer da, dort wo die Palme steht.

Wenn Schulz keinen Platz an der Palme be­kommen konnte, weil dort schon jemand saß, musste er gehen, da sein Platz ja belegt war. Ei­gentlich sollte Schulz den Platz an dieser Palme immer bekommen, da er dort einfach hinpasste. Wer sollte auch sonst schon dort sitzen, wenn nicht Schulz? Von hier aus konnte Schulz alles über­blicken. Der Zeitungs­ständer stand in der Nähe, und er sah immer, wenn jemand kam oder ging, ob­wohl ihm das egal sein konnte, da er hier so­wieso niemand kannte. Trotzdem schaute er gerne Leute an und beobachtete sie.

Schulz passte wirklich gut in dieses Café. Er wirkte etwas stehen­geblieben, und so schien auch das ganze Café zu sein. Dabei war Schulz ein durch­aus nicht-stehen­gebliebener Mensch, höchstens insofern, als er nicht mehr ar­beitete. Er war Früh­rentner, 42 Jahre alt. Ein Betriebsunfall in den Kupferwerken hatte ihm den linken Arm und das linke Bein beschä­digt.
Jedenfalls passte Schulz in dieses Café, weil er stehen­geblieben wirkte, aber nicht stehen­geblieben war. Das Café passte auch zu ihm, da es durch die mahagonifarbenen Möbel dun­kel war. Schulz war ja auch recht dunkel geklei­det, und außer­dem sagt man doch, dass die Men­schen, die einsam sind, in die Dunkel­heit flüchten.
Schulz war etwas einsam. Seine Kollegen hatten sich lang­sam von ihm ge­löst, genauso wie seine Freun­din, die mit einem Halbkrüppel nicht zusam­men sein wollte. Sie hatte ihm das nie gesagt, weil sie ihn nicht verletzen wollte und Susanne hatte sich auch schon in einen ande­ren ver­liebt: Schulz war kein guter Lieb­haber. Ein Vir­tuose des Schauens. Das wäre wohl die richtige Bezeichnung. Schulz lebte seine Sinnlichkeit über das Schauen und seine Vor­stellungskraft aus. Vielleicht ist es bei Schulz auch mehr als das. Jeden­falls hatte Susanne mehr von ihm erwartet.
Das Café wirkte nicht nur nost­algisch der Möbel wegen, sondern es waren auch die bei­den Venti­latoren mit ih­ren schlaff herunterhängen­den Flügeln – der Staub wurde dort praktisch nie ge­wischt -, die zu dieser Wirkung bei­trugen. Es gibt sicherlich einige Cafés mit Ventilato­ren, aber diese waren sicherlich schon älter, und zwar so alt, daß man sie des­wegen anschauen musste.
Schulz ging nicht nur in dieses Café, weil er die Gummipalme liebte! Er hat nicht nur die Gum­mipalme an­gestarrt oder belanglosen Leu­ten hinterher geguckt, sondern er kam wegen Doris, und die hat er angeschaut, wenn sie es auch nicht unbedingt merkte oder wahrhaben wollte. Gewiss! Schulz war etwas einsam, und ein­same Men­schen denken viel nach.
Deswegen wünsche ich noch viel mehr Men­schen als nur Schulz, einsam zu wer­den. Dann denken sie viel­leicht wenigstens mal nach. Manche denken noch nicht mal mehr manchmal nach. Manchmal denken sie nach, aber weil „manchmal“ so­wieso zu kurz ist, lassen sie es gleich bleiben.
Schulz war da aber an­ders. Er war nicht nur ein Virtuose des Sehens und Schau­ens, sondern er schaute und dachte, machte die Augen auf und dachte nach über das, was er sah. Wenn er Doris an­sah, hat er sie um starrt, dass die Luft Fesseln, die er gezo­gen hatte, sie am Gehen hätten hindern müssen.
Schulz ärgerte sich über seine Instinkte, über die Tatsache, dass er sie an- und um starren musste.
Doris waren nun Mal schön, niedlich, süß, tau­send Dinge mehr. Schulz hatte häufig die Befürchtung, dass er sich mit seinen Blicken in Doris‘ Strumpfhosen ver­fangen würde. Aber sie hat ja anscheinend von Schulz‘ Blicken nichts gewusst, denn andere haben sie viel­leicht auch so ange­guckt, so angestarrt, und wohlmöglich konnte sie ihre Blicke auch nicht bemerken, denn sie war Kellnerin, übte eine Funktion aus, war ein Instru­ment: Sie wurde dafür bezahlt, so schön auszuse­hen, wie sie aussah, wurde für ihre gastfreundliche Für­sorge bezahlt und dafür bezahlt, dass die Männer sie an­gafften.
So ähnlich dachte Schulz, wenn seine Blicke, die sich sogar manchmal tief unter Doris‘ Rock verfingen, nicht verhin­derten, dass Schulz über­haupt noch denken konnte. Nein, dachte Schulz, der alte Reuter hat sie nicht umsonst einge­stellt! Doris zog die Blicke an, die anderen warfen sie ihr zu. Der Kuchen schmeckte besser, der Kaffee wurde heißer, der Durst größer. Reu­ter ist ihr Zu­hälter und sie seine Hure, mit dem Unter­schied, dass ihre Ware nicht ihr Körper ist, sondern Kaffee, Suppen und sonst was.
Doris war wirklich schön, niedlich, süß und tausend Dinge mehr. Sie war eigent­lich das Ideal einer Frau in Form einer Kellnerin. Auch wenn sie dann doch keine richtige Frau war. Sie war ja nicht die hin­gebungsvolle Frau, die ihre Liebe durch ihre mütterliche Fürsorge und ihr Sex-Appeal offenbarte, sondern sie war unan­tastbar, eigentlich nur eine Marionette, die Dienste vollzog. Schulz wusste, dass er nicht so denken durfte. Die moderne Frau hätte das nicht für ihn getan, sexy sein und fürsorglich sein, wie eine Mutter. Hier durfte er noch sitzen, sich be­dienen lassen, und seine geilen Blicke waren sogar gewollt. Doris musste Ideal sein, da sie als Kellnerin keine Frau war.
Sonst hätte sie viel­leicht ihre Kunden als Freunde betrachtet, hätte mit ihnen ge­sprochen, mehr und in­timer gesprochen als sonst, hätte sich in einen Kunden, da er ja ein Freund sein würde, verliebt. Aber sie war eben Kellnerin und deswegen auch nicht echt. Wenn sie echt war, dann nicht in diesem Kellnerinnen Aufzug. Schulz hätte gerne ihre weiche, samtige Haut berührt, hätte gerne dieses spie­gelglatte, braune Haar gestreichelt, das Doris ganz ein­fach mit einer Klammer zurück­gesteckt hatte.
Es gab viele Frauen, die ihre Haare mit ganz merk­würdigen Objekten zusam­mensteckten, zum Beispiel mit Plastik Schmetterlingen, Plastik Schleifen oder Riesen Knöpfen. Schulz dachte dann immer, dass solche Frauen von ihrem Gesicht oder von ihrem Haarschopf ab­lenken müssen und des­wegen diese Objekte in ihren Haaren tragen. Vielleicht wa­ren sie auch selbst ganz aus Pla­stik, ganz künst­lich und bestimmt noch weniger echt als Doris in ihrem Kellnerinnen Kostüm.
Schulz hatte sich in Doris verliebt, und hätte er sich nicht in sie verliebt, würde er Kaffee und Kuchen nicht im Café Reuter ein­genommen haben. Doris hätte sich viel­leicht auch in Schulz ver­lieben können. Seine Haare waren zwar etwas licht, seine Kleidung sprach auch nicht gerade für ihn, aber dennoch sah er wie ein zwar altern­der, aber zarter Knabe aus.
Hatte auch nicht diesen star­ken Haar­wuchs, so dass seine Brusthaare schon zum Hals hinauf­kletterten. Konnte auch etwas schüch­tern dreinblicken mit sei­nen großen Blinzle Augen, die hübsch waren, wie seine von kleinen Falten durchriefte na­türlich braune Haut, hatte auch nicht die­ses ekelhafte Gehänge vor sich herzu­schleppen.
Doris war auch etwas schüchtern. Ir­gendwann konnte sie aber doch nicht mehr leugnen, dass Schulz sie ansah und sie ihn genauso flüch­tig verstohlen an­blickte, wie er sie. Wenn sie sich zu ihm setzen würde. Nein! Die Kell­nerin Doris war eben für alle da. Eine Hure hatte nicht nur einen Mann, sie musste ja ver­dienen, indem sie alle be­friedigte. Sie würde die anderen beleidi­gen, wenn sie bei Schulz Platz nähme: Als ob es eine Hure öffentlich mit ihrem Freier triebe, die an­deren aber nur zu­gucken dürften und ihre Erregung vor Neid bald abflaute.
Doris war aber nicht nur Kellnerin oder Hure, sondern auch ein pri­vater, echter Mensch. Warum sollte sie hier niemanden kennenlernen und später wiedertreffen können? Sie müsste nur die Fäden ihres Kellner haften Marionettendaseins ab­legen, durchschneiden, nur zei­gen, dass sie Mensch ist, genauso wie eine Hure nicht nur Hure ist. Schulz und Doris ver­standen sich schon. Schulz sagte auch nicht mehr, was er begehrte, son­dern Doris sah, was er wollte. Sei es der Kaffee, den er sonst mündlich bestellte, oder sei es die Sehn­sucht, die seine wachen Augen wider­spiegelten. Doris wurde auch nicht nervös, wenn sie zu Schulz ging, sondern es war eine Er­leichterung. Als ob sie das Ge­schirr auf seinen Tisch streicheln würde als es dort ab­zustellen.
Schulz kam öfter in das Café Reuter, obwohl er mit Doris niemals sprach: Wozu auch reden, diese flachen Floskeln ab­lassen, die we­der zu Doris‘ noch zu Schulz‘ Sprache gehörten!
Schulz dachte sich: Das nächste Mal, wenn ich in dieses Café gehe, dann sage ich ihr, dass ich sie liebe. Ich weiß auch nicht, wie sie reagie­ren wird, wenn ich ihr das sage und wie ich dann reagiere, wenn ich ihr gesagt habe, dass ich sie liebe.
Von seinen Gedanken besoffen, lief Schulz noch eine Zeit lang in der Stadt oder einer Stadt herum. Wobei er gar nicht wusste, dass er in weiten Bögen schon zum dritten Mal um das Café Reuter herum kreiste.
Öffnete dann die Tür weit auf – ganz weit auf – und sah viele Leute, die ihn sahen, ihn an­blickten, da er mit seinen Riesenaugen jeden Blick auf sich ziehen musste. Sah Doris und wollte sich an seinen gewohnten Platz setzen. Der Platz an der Gummipalme war belegt. Schulz ging streng auf Doris zu. Die Blicke der an­deren gingen ihm nach, saßen auf seinen Schultern, knabberten an seinem grau­melierten Mantel, zwickten ihm am Ohr und schauten dämlich in seine klaren Augen. Schulz streifte die Blicke ab, guckte noch mal strahlend in die Blicke, dann waren sie tot. Ging auf Doris zu, packte sie zärt­lich an ihren Schul­tern, schaute ihr quer durch die Augen und schrie so, dass es jeder hören konnte, und die Ohren, die zu den Blicken gehörten, zu wimmern anfingen: “ Ich liebe dich !“ Doris ließ ihr Tablett fallen, und der aus­gelaufene Kaffee bil­dete einen Swimming-Pool, in dem Kuchen schwamm.
Doris sah den Swimming-Pool, sah Schulz tief in die Augen und lachte herz­lich.

*Wolf Wiens ist nach eigenem Verständnis ein kleiner Philosoph, der sich auch mal für Dadaismus interessiert hat. (vgl. Kurzgeschichte auf MENGEDE:InTakt! vom 19.7.2016) „DaDa musst du nicht studieren, sondern du musst es sein und fühlen“, sagt er.
Er hat mehrfach die ein oder andere bizarre Geschichte verfasst, allerdings ist dafür  kein Rezept vorhanden. Allerdings: Wiens Geschichten haben  häufig mit seinem Leben zu tun.
Im vorstehenden Beitrag versteht er sich als allwissender oder auktorialer Erzähler.