Die Schwiegermutter
Kurzgeschichte von Wolf Wiens*
Die Feiertage – welche es auch immer seien – dienen nicht allen Menschen, um ihre Lebensfreude auch nur geringfügig zu steigern. Gedeihen die holden Tage also nicht, ist Abhilfe zu schaffen. Wie das geschehen kann, wird in dem folgenden Bericht deutlich.
„Beim Eiersuchen ist mir aufgefallen, dass unser Garten vor Unkraut erstickt“, sinnierte die Schwiegermutter beim Mittagessen und schaute dabei ihre Schwiegertochter an, als wenn sie für den Unkrautwuchs unmittelbar verantwortlich wäre. Die Schwiegertochter erwiderte nichts, um den Gatten nicht zu erzürnen, der seine Mutter ‚Ja, Gott weiß!‘ kraft der ihm zugetragenen Erziehung kennengelernt hatte.
Seine Mutter war inzwischen allein und die Kinder versuchten ihr Bestes, um den familiären Pflichten gewissenhaft nachzukommen. Sie wurde zu den üblichen Ereignissen gähnend heimgesucht. Widerstand war in diesem Hause zumindest nicht populär, so dass die befehlsträchtige Althenne frei wirken konnte und ihr verwandtschaftliches Publikum im Zaume hielt oder bis zur Sauerstoffkargheit an sich presste. Was hätte sie auch tun sollen? Vielleicht eine Kontaktanzeige aufgeben in irgendeiner Schmuddelzeitung? Oder sich vielleicht einen jungen Geliebten nehmen und diesen aushalten? Mit anderen Damen über den Verflossenen gackern und bei lauwarmen Kaffee rot anlaufen? Nein! Ihre Familie sollte für sie da sein – quasi als unterhaltende Altersversorgung.
Doch zurück zum „Unkraut“, das die Schwiegermutter allmählich in zornige Wallungen brachte. In ihrem üblichen Befehlston teilte sie ihrer Schwiegertochter mit: „Wir beide gehen gleich in den Garten, um Unkraut zu jäten, während die Männer in das Raucherzimmer gehen und sich ihren Vergnügungen widmen dürfen. Ihr könnt euch der Entwicklung des Aktienmarktes hingeben und eure besonderen Zigaretten rauchen.“ Die „besonderen Zigaretten“ sprach die Schwiegermutter mit einem ironischen Unterton an, da sie meistens der Anlass waren, um sich ihrer Person geschwind zu entledigen. Nachdem die Schwiegertochter das Geschirr abgeräumt hatte, die Teller und Töpfe gespült, getrocknet sowie auf Anweisung ihrer Schwiegermutter hin verräumt hatte, ging es in den Garten, so dass die Herren der Schöpfung Zuflucht in den später qualmenden Teil des Hauses nehmen konnten.
„Jetzt schaue doch mal richtig hin. Nein! Du bist ja dazu fähig, meine Stiefmütterchen auszureißen. Du kannst ja Unkraut nicht einmal von meinen schönen Blumen unterscheiden!“ Die Schwiegermutter ergoss sich in Vorhaltungen und schickte die Schwiegertochter in die Garage, um erst einmal die üblichen Werkzeuge und einen dort stehenden Eimer zu holen.
Die Schwiegertochter kochte schon wieder vor Wut, da sie erneut das Opfer der Kapriolen ihrer Schwiegermutter war. Die Männer interessierte das kaum, solange sie nicht selbst Opfer wurden. Doch sie hatte nun langsam genug, da schon viele Jahre in der gleichen Art und Weise dahingegangen waren.
Endlich zurückschlagen! Endlich dieser geifernden Hyäne ein Ende machen! Sie durch das zum Schweigen bringen, was sie selbst auf den Weg gebracht hatte!
Sie hatte also diverse Hacken und den Eimer herbeigeschafft und wurde zum unkrautrupfenden Instrument ihrer Schwiegermutter. „Ja, siehst du das denn nicht oder willst du es nicht sehen! Da sind doch noch Unmengen von Unkraut! Bück Dich doch mal richtig! Die Hose kann man wieder waschen.“
Ja, ich tue ihr den Gefallen, dachte sich die Schwiegertochter. Sie soll sich nur etwas beruhigen, denn sie muss auf das gefasst sein, was sie gleich erwartet.
„Jetzt bück dich doch mal richtig“ und die Schwiegermutter drückte sie an ihren Schultern tief über das Blumenbeet, da sie offensichtlich der Meinung war, dass ihre Schwiegertochter an einer Sehschwäche litt, die durch ihr grobes Handeln beseitigt werden könnte.
Die Schwiegertochter kochte vor Wut und im Übrigen tat ihr das Schwiegermütterlein an den Schultern weh. Es wurde Zeit, dass sie ihren fantasievollen Plan in die Tat umsetzte.
Sie kam plötzlich wieder hoch und sagte kein Wort. Sie blickte ihre Schwiegermutter mit durchbohrenden Blicken an und schlug mehrfach mit der kleinen Hacke auf ihren Schädel ein. Ihre Schreie verstummten schnell. Da das liebe Schwiegertöchterlein kräftig und flink war, waren ihre Schläge umgehend erfolgreich.
Sie lag betäubt am Boden und strahlte endlich eine Ruhe aus, nach der sich manch eine Schwiegertochter sehnt. Die Schwiegertochter überkam das unsägliche Gefühl einer Erleichterung. Die Männer waren wieder auf Stunden im Raucherzimmer und die Schwiegermutter lag mit blutendem Kopf bewusstlos auf einer satten Wiese. Nach dem Begriff der Schwiegertochter von einer romantischen Szene konnte nichts romantischer sein als dieses Bild, welches sie sich in Öl gemalt wünschte.
Sie zog die Schwiegermutter über die Wiese zu einer schönen, schlanken Birke, die dort stand. Sie lehnte sie mit dem Rücken an den Baumstamm und überlegte sich, womit sie ihre Schwiegermutter anbinden könnte.
Nein! Fesseln sind unbrauchbar. Ich werde sie mit Handschellen, die bei meinem Mann im Handgepäck sind, an den Baum binden. So dachte sie und rannte eilig in das Zimmer, in dem sie mit ihrem Mann hauste.
Warum der Ehemann Handschellen in seinem Gepäck hatte? Er versuchte immer noch seine Frau zu überreden, sich beim Liebesakt an ein Bett fesseln oder ketten zu lassen, um sich dem Genuss der Ausgeliefertheit hinzugeben. Seine Ehefrau hielt diese Fantasie für eine schlechte Kopie aus billigen Filmen und wollte die Herrschsucht ihres Mannes nicht auch noch begünstigen.
Sie ging zurück in den Garten zur Schwiegermutter, die nach wie vor regungslos an der Birke lag. Sie kettete sie an den Baum, indem sie ihre Arme rücklings um diesen legte und sie mit den Handschellen zu einer friedlichen und unnachgiebigen Einheit verschmolz.
Doch wie sah die Schwiegertochter nunmehr aus! Sie hatte sich ihrer engen Buntfaltenhose entledigt und sich ein kurzes Miniröckchen angezogen. Sie trug plötzlich ebenso ein bunt gefärbtes T-Shirt und ihre Haare – ihre Haare! – hatte sie zurückgeworfen und mit Gel geplättet.
Was geschah nun? Sie lief wie wild im Garten umher und sammelte Holz, wo es auch immer zu finden war. Sie stapelte es in der Form auf, als wenn sie ein Feuer anzünden wollte.
In dem Moment als die Schwiegertochter das Feuer anzünden und anfachen wollte, wachte die Schwiegermutter stöhnend und röchelnd wieder auf.
Die Schwiegertochter störte das im Moment recht wenig und sie tanzte wie eine verrückt gewordene Indianerin um das entzündete Feuer: ‚Heia, heia, heia, heia, heia, heia‘ waren ihre „Worte“ in derart schrillen Tönen, dass die Schwiegermutter mehr und mehr zu sich kam.
„Was, was tust du mit mir“, sprach die Schwiegermutter lallend und verstummte wieder. Alsbald unterbrach die Schwiegertochter ihren Tanz und ging zu ihrer bewegungslosen Schwiegermutter, die sich erdreistet hatte, eine kurze Bemerkung von sich zu geben.
„Was willst du denn, mein abgewrackter, fast stillgelegter Folterzauberer und Familienhenker?!“ Sie begann mit den letzten ihr verbleibenden Kräften zu schreien, worauf die Schwiegertochter den Eimer mit Unkraut herbeischaffte. „Och, ich weiß, was du hast. Du hast Hunger und deswegen bist du so laut. Ich habe doch Unkraut für dich gepflückt und ich habe wieder einmal das getan, was du mir aufgetragen hast. Bin ich nicht lieb, dein kleines, süßes Schwiegertöchterlein? Jetzt sei schön brav und iss, was dir dein Töchterlein in den Topf getan hat.“
Die Schwiegertochter stopfte unnachgiebig Unkraut in den Schlund ihrer Schwiegermutter und hätte sie nicht schnell gekaut und geschluckt wäre sie daran erstickt. Die Schwiegermutter konnte auch nicht mehr nur ansatzweise schreien, da ihre Kehle förmlich zugestopft war. Sie erbrach.
„Magst du nicht, was heute in dein Töpfchen gekommen ist? Iss schnell, schneller! Du wirst dich bald an den delikaten Geschmack des Unkrauts gewöhnen. Ja, es ist frisch und reif und wird sich anschmiegsam an deine Magenwände heften.“
Die Schwiegertochter drückte singend mehr und mehr Unkraut in den Hals ihrer Schwiegermutter, so dass sie bald nicht mehr so schnell kauen und schlucken konnte wie es nötig gewesen wäre.
“ Ich mach sie tot, ich mach sie tot, ja ja ja, tot tot, ja ja ja, tot tot, ja ja ja, tot tot, tot tot!“
Ungefähr so sang die Schwiegertochter ihren persönlichen „Freudesgesang“, der erst dann verhallte als die Schwiegermutter nicht mal mehr röcheln konnte, da sie schon längst erstickt war.
Die Schwiegertochter stellte den Unkrauteimer zur Seite und guckte ihre Schwiegermutter an, die starr, todesgewiss und mit aufgerissen Augen in den Himmel stierte.
„Aber Schwiegermama! Warum sagst du denn nichts. Ich bin doch nicht der böse Wolf! Ich bin doch nur dein Schwiegertöchterlein! Oh, wahrscheinlich bist du tot, ganz tot. Du warst ja auch schon ganz alt. Jetzt darfst du endlich zu deinen Stiefmütterchen, die du ja sowieso noch einpflanzen wolltest.“
Wer der Annahme ist, dass die Schwiegertochter schon seit geraumer Zeit einem Wahn verfallen war, dürfte wohl nicht ganz falsch liegen.
Aber wie schön, dass die Schwiegertochter ihrer Schwiegermutter die letzte Ehre mit den verbleibenden und nach einzupflanzenden Stiefmütterchen erweisen wollte!
Die Schwiegertochter ging zurück ins Haus und stellte ihren „vorindianischen Zustand“ wieder her, denn ihr Gatte noch seine Brüder waren auch nur für geringfügige Veränderungen zu gewinnen. Später ging sie in den Keller, um die dort verweilenden Stiefmütterchen und einen Spaten zu holen. Der Spaten war schon nötig, denn sie wollte nicht nur die Stiefmütterchen, sondern auch ihre Schwiegermutter einpflanzen.
Zurück im Garten stürzte sie sich auf eine größere, freie Stelle im Blumenbeet, um ein höchst persönliches und höchst familiäres Grab auszuheben. Sie verlor einige Schweißperlen, da die Schwiegermutter ja viel mehr Platz als die Stiefmütterchen brauchte.
Nachdem die Schwiegertochter genug Platz für die Schwiegermama geschaffen hatte, ging sie zu der Birke und erlöste die Schwiegermama von ihren unbequemen Handschellen, mit der ihre Handgelenke rücklings verschlossen waren.
Die Schwiegertochter zog sie nun rüber zu der mühevoll ausgegrabenen Grabesstelle, stopfte sie in das große Grabesloch und schippte die Erde wieder zurück und auf die tote Schwiegermutter.
Die Stiefmütterchen pflanzte sie gewissenhaft über die Schwiegermutter oder schlicht auf das selbsterwählte, selbstausgehobene und selbstgestaltete Grab.
Sie ging nach ihrer vollendeten Arbeit zurück ins Haus, um sich etwas zu waschen und um dem Gatten sowie seinen Brüdern ihre Fähigkeit als Gärtnerin zu demonstrieren.
In dem Raucherzimmer ging es noch immer sehr heiß her, da sich die Brüder über die „Globalisierung“ und die „wirtschaftliche Stellung Deutschlands“ heftig auseinander setzten. Sie waren sehr erfreut, endlich ein wenig Abwechslung zu bekommen, indem sie die Schwiegertochter in den Garten führte. Die Herren gingen bereitwillig und nach frischer Luft schmachtend mit.
„Schaut, was ich hier angepflanzt habe! Die letzten Stiefmütterchen, die Mutter noch im Keller hatte. Sie mussten rasch eingepflanzt werden, da der Frühling doch schon recht vorangeschritten ist.“
Alle stimmten wohlwollend zu und gaben sich halbbegeistert hinsichtlich des wundersam, bereicherten Blumenbeets.
Ihr Gatte und der Sohn der Dahingegangenen wunderte sich etwas und fragte: „Wie kommt es denn, dass du plötzlich so engagiert in der Gartenarbeit bist?“ „Ach, wenn es die Umstände erfordern oder sich die Gelegenheit bietet kann ich mich auch in diesen Dingen auszeichnen.“
Ihr Gatte war noch immer etwas irritiert und fragte erneut: „Aber, wo ist denn meine Mutter, mein Schatz?“ „Mein Engelchen! Wenn sie nicht unter den Stiefmütterchen liegt ist sie bestimmt bei der Nachbarin“, erwiderte sie lachend und ging zurück ins Haus. Die herumstehenden Männer stimmten in ihr Lachen ein und rauchten noch einige von den „besonderen Zigaretten“ in dem dafür vorgesehenen Zimmer.