Kapitel II – Ostzone, Westzone – Rübermachen
Große und kleine Fluchten
1947 bis 1957
Heute: Denkzettel 6
1955 war es endlich so weit: Die Bundesrepublik Deutschland wurde in die NATO aufgenommen, zehn Jahre nach der Kapitulation. Na, es geht doch! Mein Vater humpelte noch arbeitslos in Zwiefalten herum, aber mich hätten sie können holen wollen zum Militär.
Die alten arbeitslosen Generäle der Wehrmacht hatten zehn Jahre warten müssen, hätten wieder zu tun bekommen können jetzt, denn der eine Erzfeind saß ja immer noch an der Ostfront in den Startlöchern, und manche Rechnung war bekanntlich noch offen. Deutschland dreigeteilt? Niemals! Das war offizielle Lesart, Politik, das entsprach voll dem herrschenden Bewusstsein der meisten Menschen, von denen ein paar Millionen eben die Heimat verloren hatten und den anderen paar Millionen auf der Tasche lagen. Die rote Gefahr, das machte Angst, und der Antikommunismus machte den Rest. So mancher Aspekt war da ja nicht aus der Luft gegriffen.
Die Generäle Hitlers, soweit nicht in fürstliche Pensionen geschickt, kannten noch die alten Panzerstraßen im Osten, wussten, wie man notfalls Leningrad umzingelt oder die Oder oder den Dnjepr überquert. Beim Kalten Krieg sich die Hände reiben, Rache ist Blutwurst. Zehn unbewaffnete Jahre, von 1945 bis 1955, können keinen Seemann nicht erschüttern! Zehn Jahre, da träumten nicht nur die alten Kameraden manchen alten Traum noch einmal neu, die alten Melodien lagen uns Kindern und Jugendlichen ja noch im Ohr, samt Text, und was verboten ist, das macht uns grade scharf (Wolf Biermann). Vergesst mir die Musikke nicht, mahnte Adenauer die Militärs, und schamlos übernahm die Bundeswehr Text und Melodie, und wenn das eine oder andere denn doch zu braun war, wurden in den Bundeswehr-Liederbüchern die alten SS-Gassenhauer mit neuen Texten versehen.
In einem Polenstädtchen
Denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt
Oh, du schöner Westerwald
Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein
Lili Marleen
Das Blümelein waren die Mütter, die Frauen und die Mädchen, die Socken für den Winterfeldzug strickten oder in den Munitionsfabriken arbeiteten.
Das Mägdelein, das Blümelein, ist die wartende, weinende, hingebungsvolle, treue und doch umschwärmte Frau – fern, fern, dort, wo die Blumen blühn. Lieder und Klischees hielten sich, und so sang ich »meine Lili Marleen«.
Lübke baute Auschwitz
Schleyer hat’s gesehn
Globke machte auch mit
und Kiesinger fands schön
Das Geld kam von der Industrie
Das Gas lieferte die Chemie
und heute gibt’s Pension
Die Herrn von Grund und Boden
die Chefs an Rhein und Ruhr
die sind wieder in Moden
die zieh’n wieder die Schnur
Ob Bomben, Panzer, AKW
die Industrie macht immer mit
es lockt halt der Profit
Vor der Kaserne,
v
vor dem großen Tor
stand einer ziemlich lange
war selbst ein großer Tor
Ich hoffe, dass Ihr das versteht
Die Knarre hat er umgedreht
es war noch nicht zu spät
In jenen Jahren wechselte unsere Familie mehrmals die Tapeten – dem eignen Triebe gehorchend, der Not, den deutschen Umständen. Reisen bildet, und so wurde ich ausgebildet bei den Um- und Wegzügen von Breslau nach Dresden, dann wieder zurück von Dresden nach Breslau, von Breslau nach Waltershausen, von Waltershausen nach Tambach-Dietharz, von Tambach-Dietharz, aus der DDR, unserer Ostzone, nach Vechelade, von Vechelade nach Zwiefalten, von Zwiefalten nach Schörzingen, von Schörzingen nach Zwiefalten. Im 50 Kilometer entfernten Pfullingen machte ich meine Lehre und wohnte in Reutlingen. Weil ich keine Arbeit fand, kehrte ich ins Elternhaus zurück – die waren inzwischen von Zwiefalten nach Weingarten gezogen und ich fand die Stelle in Ravensburg.
Als die Druckerei Pleite machte, zog ich Ende der Fünfzigerjahre nach Stuttgart.
In der Erinnerung erst habe ich an allen Orten, in denen ich allein oder mit der elterlichen Familie und dem Bruder lebte, kurz oder lang, einen ganz besonderen Charme entdeckt, und jeder ist in seiner Weise auch in meinem Heimatbaukasten vertreten. Nach negativen Erlebnissen und Lebensphasen muss ich erst kramen, die wurden verschüttet wie seinerzeit wir in den Dresdner Bombennächten. Das schwere Erinnern, wenn’s nicht gerade ein nächtlicher Überfall war durch DPs, Displaced Persons.
Wo war denn etwas wirklich schlecht, schlimm, katastrophal, so prägend, dass es sich festgefressen hat im Koppe? Wenn’s nicht gera de das In-die-Hecke-Ziehen der Mutter durch junge sowjetische
Soldaten war, die ihr anschließend den Rock geraderichteten und mir verlegen vorkamen, so, als schämten sie sich, die uns Kinder trösteten. Wenn’s nicht gerade der Brandanschlag in der Kernerstraße war – später.
Wie schön, dass man fast alles und was man alles vergisst, und wie tröstlich, dass die Erinnerung daran heute, wie seltsam, kaum schmerzt. Es ist alles weit weg, und ich muss um drei Ecken denken.
Vielleicht geht uns das allen so, jenen jedenfalls, die durch den Zwang der Ereignisse die Kleider wechseln müssen und sich dann nicht mehr an die kalten Duschen vorher erinnern können. Nur die wärmenden Erinnerungen bleiben, das große Stück Torte, das uns die Polen schenkten, ein Apfel im Winter, ein dicker Kanten Brot von Sascha, dem russischen Offizier, der uns seine Pelzmütze aufsetzte und Katzen schoss, als es nichts zu fressen gab.
Der Charme jener Orte, die ich bewohnte, entsteht möglicherweise erst mit der Nachsicht. Nach Jahren der Abwesenheit kehrt man ins Damals zurück, sucht die längst sanierten Bezugspunkte: Die alte Wohnung, die Schule, Bücher, die Wege in den Wald, die Kneipe in der Nachbarschaft, Läden, Schlittenfahrten, Mädchen, Schiefertafeln, Arbeitskollegen, Kameraden in den Jugendgruppen, die Ausgänge ins richtige Leben.
Wehrdienst – nichts im Leben kann richtiger sein, sagten die, die eben und Gott sei’s gedankt den verdammten Krieg verloren hatten, das ist doch erst ein paar Tage her, und schon waren wir wieder wer. Mit der Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die NATO 1955 wurden die ersten Einheiten der Bundeswehr gebildet, die allgemeine Wehrpflicht wurde 1956 eingeführt und die ersten Rekruten kamen 1957 in die Kasernen: Andernach hieß das Kaff. Wie lächerlich uns das damals vorkam.