Kapitel III
Castro, Lübke, Erhard – Demos, Schnitzel, Urlaub
1957 bis 1967
Heute: Denkzettel 1
Die Lehre als Schriftsetzer, ach, was hatte ich mich darauf gefreut! Wie hatten wir gekämpft, um eine Lehrstelle zu ergattern. Im Traumberuf! Aber ich hab dann gerade so, mit Ach und Krach und einer Vier, die Gesellenprüfung überstanden – ausreichend.
Frau Meisterin, lebe wohl! Ich packte meine Siebensachen in Reutlingen zusammen und suchte Arbeit. Zunächst kam ich mit stolzgeschwellter Brust in Weingarten an, da wohnten die Eltern. Den Gesellenbrief mit der Vier musste ich ja niemandem zeigen, meinte mein Vater, denn jetzt musste erst mal Arbeit gesucht werden.
Ein Skatbruder des Vaters nahm mich übergangsweise auf die Baustelle mit – Trockenbau. »Bissel was vom Bau hamwa ja alle«, tröstete mich der Herr Papa. Wir hatten zu oft die eigenen vier Wände trockenlegen müssen in Flüchtlingsunterkünften und schrägen Sozialwohnungen. Und tatsächlich – es war eine interessante, müde machende Arbeit, schwer, aber wenn man drei Jahre lang 30 Kilogramm schwere Setzkästen wuchtet, klappt das schon.
Und wie rieb ich mir die Hände, als ich eine neue Stelle in der Ravensburger Druckanstalt fand. Da begann faktisch eine zweite, eine echte Lehre, denn der alte Pfullinger Lehrmeister Hugo Lorch hatte mir fast alle Lust an der Schwarzen Kunst verhunzt. Aber eben nur fast.
Als die Ravensburger Druckerei Pleite machte, musste ich mal wieder Leine ziehen. Stuttgart? Das war irgendwie meine Traumstadt, ja, die Sehnsucht meiner Jugend. Es war eine Großstadt, wie ich sie ja noch in meinen Erinnerungen trug, Breslau, Dresden, die Ruinen drohend in den hellen Himmel, die Keller dunkel in die Hölle weisend. Straßenbahnen, Russen, Juden, Flüchtlingstrecks, großer Bahnhof immer, weggeworfene Uniformen und alles gehörte niemand, eine Zeit lang. Nirgends Aufsicht, die Kinder die Herren der Welt, war ja auch Zeit.
Die Mutter: »Ende der Fünfzigerjahre machte er nach Stuttgart. Nu, das war ja nicht leicht für uns. Aber in Oberschwaben gab’s kaum Buchdruckereien. Am liebsten wär er ja zu ’ner Zeitung gegangen, als Journalist. Aber so? Ohne Ausbildung … Tumm wara ja eigentlich nich. Und wissense – Geld hatten wa ja nich, nichamal, um die Kinder uffs Gymnasium zu schicken. Nichamal fürsch Fahrgeld hätts gereicht. Nu ja, ja, nu nee, nee.«
Immerhin hatte ich inzwischen ja ein paar Gesellenjahre in Ravensburg hinter mir – und nun ging auch, mit etwas Nachstochern, der zweite Wunsch in Erfüllung – bei einer Stuttgarter Zeitung anzufangen. »Allgemeine Zeitung für Württemberg« -– Anno dunnemal: »Schwäbische Tagwacht«.
Ich fing als Schriftsetzer an, in der Friedrichstraße 13. Die AZ war Druckerei und Tageszeitung der SPD, das württembergische SPD-Organ, eine Tageszeitung fast ohne Anzeigen, ein geschichtsträchtiger Ort aus den ersten Anfängen der württembergischen Arbeiterbewegung.
Dann schusterte ich um, zum Maschinensetzer an der Linotype. Das war deutlich besser bezahlt, und ich war ziemlich erpicht darauf, immer wieder mal was Neues zu machen. Die Kolleginnen und Kollegen in der AZ waren fast alle klassenbewusste Arbeiter, jedenfalls das, was ich mir heute darunter vorstelle.
Gerade mal zehn Jahre vorher war der Krieg zu Ende gegangen. Noch 1947 irrten Millionen Flüchtlinge durchs Land. Dem kalten Winter 1946/1947 folgte eine Dürre im Sommer 1947. Die Menschen hungerten. In der Ostzone. In der Westzone. Und drum rum.
Es kam zu großen Hungerdemonstrationen und Ausschreitungen. Und so mancher Nazi witterte wieder Morgenluft.
Die normale Arbeit, wenn man eine hatte, reichte nicht. Das Geld war knapp, der Schwarzmarkt blühte. Die Schieber von heute würden morgen die neuen Herren sein. »Wetten?«, sagte mein Vater.
Die Zeit in der Ostzone hing mir noch lange nach …
Tschia Tschia Tschia Tscho
Käse gibt’s in der HO
Schlange stehen se bis nach Halle
wenn se drankomm’, is der Käse alle
… oder dieser Text:
Haste nicht den Schiebermax gesehn
mit dem konnte man sich doch so gut verstehn
fünf sechs sieben Mark die Zigarett
Ist das nicht nett?
Im Westen jedenfalls lebte der frühere Nazi besser als der Nazigegner. Dass das deutsche Großkapital ein Feind der Demokratie gewesen ist, hatte man schnell vergessen oder nie gelernt. Allenfalls im Kabarett, und das wird bekanntlich nicht sonderlich ernst genommen.
Es war wie gesagt nicht so, dass ich keine Großstädte kannte – Breslau, meine Mutterstadt, war deutlich größer in der Erin- nerung, auch Dresden. Aber der Stuttgarter Reiz war doch ein besonderer. Hier waren, von der Provinz aus gesehen, die Falken groß, der linke Jugendverband, hier war die Arbeiterbewegung wer, hier wurde man nicht auf der Straße angepöbelt oder verlacht wie in Zwiefalten oder im Oberland. Hier saßen die Leute, die reden und diskutieren konnten, die über einen großen Schatz an Wissen und Erfahrung verfügten, freundliche Menschen, Aufklärer, Ermunterer, es gab Fraktionen, nächtelange Debatten, spannende Auseinandersetzungen um Fragen und Probleme, die uns wichtig waren.
Ein großes Selbstbewusstsein war das, Selbstvertrauen – und das Wissen, dass es da einerseits um praktische Politik ging, um Alltag, andererseits um die Aneignung von Theorie, idealerweise durch Praxis. Es waren Lebenshelfer, Unruhestifter. »Das solltest du mal lesen, Peter!«
Es waren Leute, bei denen wir aus Reutlingen oder Weingarten oder sonst woher zu Tagungen oder Seminaren oder Schulungen kommend übernachten konnten, es waren Leute, die wirklich große Bibliotheken hatten, interessante Schallplatten mit Liedern aus der Arbeiter- und Widerstandsbewegung, internationale Folklore, Klassisches weniger. Leute, durch deren Zimmer oder Wohnungen ein Hauch von Existenzialismus wehte, es waren Menschen, die im Widerstand gegen Hitler gestanden hatten, Geflohene, Sozialisten, Juden, beides, Rückkehrer aus Prag und Havanna wie Fritz Lamm, Emigrierte wie Fritz Rück, der als junger Bursche noch die Revolution in Württemberg angeführt hatte. Rückkehrer auch aus Israel, die sich mehr versprochen hatten vom jungen Land, wie Ted (Theodor) Bergmann.
Immer waren die Wohnungen offen, immer gab’s für Hungerleider wie mich was zu futtern, immer was zu hören von den Kämpfen, mehr nebenbei, en passant, Geschichte und Geschichten über große und kleine Ereignisse und Menschen, die einem Jahre später über den Weg liefen, Namen und Gesichter, die ich mit dem Gehörten verknüpfen konnte, aber auch Namen, die sich mir manchmal erst sehr spät und manchmal nie ganz erschlossen.
Mir schien, die Leute lebten Politik.
Was wir hörten von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr, war die Geschichte des Widerstands gegen die Nazis, es waren die Geschichten von den Irrtümern und Fehlern, Geschichten von List und Tücke, Geschichten vom Überleben im Asyl, vom verweigerten und gewährten, Geschichten von der Verfolgung der Verfolgten durch die Stalinisten, Geschichten vom Untertauchen, von Verrat, Enttäuschungen und Niederlagen.
Die sie erzählten, waren Menschen, die versucht hatten, die neue Republik zu bauen – hoffnungsfroh, resignierend, ausdauernd, zäh, weitsichtig.
Dass es auch Kurzatmige gab und nicht wenig Kurzsichtige, Scharlatane, Spione, Renegaten, Opportunisten, das
wussten wir. Sie waren ja mitten unter uns. Und dass es auch in der neuen Republik Verfolgung gab und Demütigung, Ausgrenzung, Berufsverbote, Diffamierungen, hohe Pensionen für die Verfolger von gestern und nicht einmal ein Nasenwasser für die Verfolgten, häufig keine Rente – das lernten wir.
Die Stuttgarter Schule war eine gute, gründliche Schule. Man besuchte sie gern.
* Peter Grohmann – Jahrgang 1937 – , Kabarettist und Schriftsteller, Kämpfer gegen Obrigkeitsglauben, Gehorsam und Standesdünkel hat seine Lebenserinnerungen niedergeschrieben und 2013 veröffentlicht. Das Buch umfasst auf 320 Seiten acht Kapitel. Jedes Kapitel erinnert mit „Denkzetteln“ an deutsche Geschichte – im jeweils 10-jährigem Rhythmus – eine Mischung aus Persönlichem und Politischen und meist aus beidem zugleich.
MENGEDE:InTakt! wird in den nächsten Wochen weitere Auszüge aus dieser Biographie abdrucken und bedankt sich beim Autor für die großmütige Erlaubnis. „Eine kurzweilige und vergnügliche Lektüre, bei der einem mitunter durchaus das Lachen im Halse stecken bleiben kann“. (Klappentext der Biographie)
Wir setzen heute den Abdruck fort mit dem „Denkzettel 1“ aus dem Kapitel III: Castro, Lübke, Erhard – Demos, Schnitzel, Urlaub.
1957 bis 1967