Kapitel III
Castro, Lübke, Erhard – Demos, Schnitzel, Urlaub
1957 bis 1967
Heute: Denkzettel 2 und 3
Denkzettel 2
Aber in welcher Zeit spielte das alles, was ich erzähle? Was waren für uns – besser: für mich – damals die Wegmarken? Was ist noch da an geschichtsträchtigen Daten, auch in der Rückschau?
Möglicherweise kommt einem heute, da man auf große Wissensspeicher zugreifen kann, dies und jenes wichtiger oder unwichtiger vor, als es damals wirklich war. Auch verwischt sich, was erlebte Geschichte war und was Erzähltes, Gehörtes, Gelesenes.
»Wirklich« erinnere ich mich an den 17. Juni 1953, da war ich noch im Reutlinger Lehrlingsheim, saß atemlos am Radio. Kurz nach der Niederschlagung des Arbeiteraufstands kam einer der Protagonisten der Proteste als Mitbewohner ins Lehrlingsheim.
Augenzeuge. Zeitzeuge.
Klar sind auch die Erinnerungen an den Kampf der schwarzen Bevölkerung in den USA um Gleichberechtigung, an den Ungarnaufstand 1956, an die Aufstände und Streiks in der Volksrepublik Polen, in der CSSR. Augen- und Ohrenzeugen hatten wir in Stuttgart aus Algerien, Deserteure, Gefolterte, die hier ein Widerstandsnetz aufbauten. Wenn’s stimmt.
Ich kam nach Stuttgart wie die unbefleckte Erkenntnis. Ja – schon: Ich war aktiv bei den Falken, der
Sozialistischen Jugend Deutschlands,
seit meinen ersten Reutlinger Tagen.
Mit der Gruppe waren wir von Reutlingen aus in die Schweiz geradelt – ich sagte: geradelt! – zum Internationalen Jugendzeltlager in Arbon, das Zelt auf dem Fahrrad, allenfalls gab’s mal größere Gruppenzelte, die voraustransportiert wurden. Die kleinen Mahlzeiten wurden in Selbstkochergruppen organisiert, das Mittagessen kam aus großen Kesseln, die aufs offene Feuer gestellt wurden. Die Jugendlichen des Zeltlagers aus Westdeutschland, der Schweiz und Österreich, ein paar aus Italien und Frankreich, waren eine spannende Gesellschaft, die alles miteinander teilte, voller Rücksichtnahme auf die Schwächeren, die Besonderheiten und Befindlichkeiten der »anderen«.
In der Nachschau empfinde ich das als lebensprägend.
Natürlich, wenn man auf der Flucht war wie unsere Familie, ausgebombt, vertrieben, heimgesucht von allen Widrigkeiten, lernt man wohl das Teilen, kommt aus mit der Enge in Viehwaggons, mit Läusen in Flüchtlingslagern, mit Lebensmittelkarten, Hunger, da wird das Brot, das letzte Stück, gebrochen, es reicht eine Decke für zwei.
Flöhe
Ich hatte
schon Flöhe
und Läuse
und Ratten
und Mäuse
als Kind.
Mein Nachbar
hatte ein Pferd.
Irgendwie
lief was verkehrt.
Vielleicht empfand ich deshalb das »Gemeinschaftliche« in der Gruppe, die selbstverständliche Solidarität im Alltag, besonders stark?
Ganz abgesehen davon: Für uns Arbeiter-Jugendliche wäre ja – wie für einen großen Teil der Menschen in den Fünfzigerjahren – ein Urlaub überhaupt nicht in Frage gekommen. Das Schnitzel am Sonntag war lange Zeit das höchste der Gefühle. Wir waren ja Flüchtlinge, mit dem Rucksäckel angekommen, hatten mehrfach das angesammelte Hab und Gut stehen und liegen lassen müssen, »zwei Töppe durften wa mitnehm, Bettzeug nich, Decken ja«.
Und dennoch erinnere ich mich nicht an die Schrecken der Flucht oder die Ängste jener Jahre, von den Bombennächten im Februar 1945 in Dresden einmal abgesehen, die verschüttet waren, aber ir- gendwann mal aus dem Schutt des Langzeitgedächtnisses wieder auftauchten. Wenn ich mich frage, ob es da Ereignisse gab zwischen Ankommen und Abhauen, die sich ganz besonders eingeprägt, ein- gebrannt haben, muss ich passen.Von heute nach rückwärts gesehen waren die Jahre des Krieges, der Fluchten, unglaublich spannend, lehrreich, interessant. Ich hab sie, als Kind, als Junge, regelrecht aufgesogen.
Schmerzen, Irritationen, dunkle Fragezeichen stellen sich allenfalls ein, wenn ich an erlebte Ausgrenzung denke, an Diffamierungen, vor allem an Benachteiligung, an Spott, gelegentliche Schläge. Aber was sind Schläge, wennsde Leute hast sterben sehn, Tote rechts, Tote links, Tote in der Mitte? Nischte. Da biste erhaben drüber.
Als ich das erste Mal einen Gruppenabend der Falken in Stuttgart besuchte – ich war nach eine paar Tagen in der Jugendherberge vorübergehend im Pestalozziheim der Arbeiterwohlfahrt in der Olgastraße untergekommen –, zog ich mein blaues Falkenhemd an, dazu das rote Halstuch, trat in den Raum der Jugendgruppe im Jugendhaus Mitte und schmetterte den Anwesenden, die ich ja kannte von vielerlei Aktivitäten, ein kräftiges »Freundschaft!« entgegen. Alles erstarrte, alles schaute mich etwas ungläubig an – und ich fragte: »Is was?« Es hätte ja mein Hosenstall offen sein können oder vielleicht hatte ich zwei verschiedene Strümpfe an oder die Unterhose guckte vor unter der kurzen Hose (was mir wirklich sehr unangenehm gewesen wäre). Nichts dergleichen war’s wohl. Abgesehen davon, dass ich der Einzige mit Blauhemd und rotem Tuch war. Ich hab’s bei den nächsten Besuchen der Gruppenabende dann schweren Herzens weggelassen.
Denkzettel 3
Die AZ, im historischen Gebäude Friedrichstraße 13 in Bahnhofsnähe untergebracht, gehörte zu den wenigen übrig gebliebenen Tageszeitungen der SPD in den Fünfziger- und Sechzigerjahren.
Bei einem Arbeitskollegen aus Cannstatt fand ich ein Zimmer im Dachgeschoss, immerhin mit eigenem Eingang, eigenem Klo und kleinem Waschbecken, das ich aber nicht besonders häufig benützte, bis mir mal jemand sagte, ich rieche sehr angestrengt. Es war in Steinhaldenfeld, nun war meine »Heimatgruppe« die Cannstatter, die sich wöchentlich im städtischen Anna-Haag-Jugendhaus traf. Viele Freunde kannte ich ja schon, und sie mich, und so konnte ich unbefangen Themenvorschläge für Gruppenabende oder kleine öffentliche Veranstaltungen machen, politische Wanderungen oder Stadtspiele, die soziale Spurensuche organisieren – und die nach der eigenen und der fremden Geschichte.
Wenn ich abends mit der Straßenbahn – manchmal auch zu Fuß, um unterwegs Flugblätter zu verteilen – nach Hause kam, holte ich eine Dose Ravioli unter dem Bett hervor und machte die Dose samt Inhalt auf einem kleinen Esbit-Kocher warm. Gegessen hab ich dann direkt aus der Dose. Im »Geschäft«, also auf Arbeit, kam morgens der Vesperholer. In den Firmen waren das meist bissle so was wie ein liebenswerter Duppel, Lehrlinge oder Frauen, die sich etwas Zubrot verdienten. Die gingen mit einem Zettel von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz und schrieben auf, was sie beim Metzger oder Bäcker für die einzelnen Leute holen sollten. Ein Stück Schwarzwurst, zwei Wecken. Ein Pärle Landjäger. Schinkenwurst. Geschnitten oder am Stück? Das wurde dann, rechtzeitig vor Beginn des Vesperns, an die Besteller ausgeteilt. Viele brachten ihr Vesper von zu Hause mit, das war preiswerter, und neben dem Bleimaterial, den Schnü- ren, Schiffen, Winkelhaken, Pinzette und Ahle stand da ein Töpfle Senf (für die Schwarzwurst) und hier ein Gläsle saure Gurken (für zwischenei).
Einmal im Jahr ließ der Fax (Faktor) den Dampf rein und verlangte, dass bis zum nächsten Tag alle Lebensmittel weg sein müssten, sonst werfe er »das ganze Glomp persönlich in den Kutteroimer«, in den Müll.
Vorsicht, Kollege! Bei Küppersbusch hat’s »wegen so was« mal einen großen Streik gegeben. Der Meister hatte über Nacht die leeren Bierflaschen eingesammelt, die an den Maschinen standen – und dort nicht stehen durften. Pfandwert: 10 Pfennig, erzählte Willi Scherer, Betriebsrat in Gelsenkirchen. Es war der Beginn einer ganzen Serie »wilder« Streiks quer durch die Republik.
Meist einmal in der Woche, nach dem Empfang der Lohntüte, kam der Kassierer meiner Gewerkschaft an die Arbeitsplätze. Es war selbstverständlich, dass jeder in der Industriegewerkschaft Druck und Papier organisiert war und dass ein satzungsmäßiger Beitrag bezahlt wurde. Der Kollege hatte immer gute Laune, ein gemütlicher, erfahrener Kämpe, und brachte die aktuelle Gewerkschaftszeitung mit, wies einen wie mich auch mal auf diesen und jenen Artikel besonders hin, verkaufte vielleicht auch noch eine Solidaritätsmarke für 20 Pfennig, erinnerte an eine gewerkschaftliche Fortbildung. Er kannte von diesen Rundgängen jahrein, jahraus im Betrieb alle Leute, wusste um ihre Sorgen und Probleme und Stärken und Schwächen (nicht selten sah er missbilligend auf die zwei, drei leeren Bierflaschen neben einem Setzkas- ten!), fragte, ob man inzwischen eine Wohnung gefunden hätte, und wusste, dass der Kollege Soundso in der Buchbinderei neuen Honig aus eigener Imkerei dabeihatte.
Der Arbeitsplatz war immer auch ein Ort der weit über die Arbeit hinausgehenden Information, der Argumentation, der häufig hitzigen Diskussionen um fast alle gesellschaftlichen Fragen – Mauerbau oder Rechtsradikalismus, Wiederaufrüstung oder Samstagsarbeit. Auf dem Tapet standen alle Themen des Alltags.
Hin und wieder war der Betrieb auch Ausgangspunkt für andere abendliche Aktivitäten – etwa, um eine spezielle Kundgebung in der Nähe zu besuchen oder eine Versammlung der neuen Nazis zu stören.
Alle Zeit der Welt, wie anderer Leute Kinder, auf die wir mitunter neidisch waren, hatten wir nicht, aber oft Familie, auch Kinder, meistens eigene, jedenfalls tägliche Pflichten: Aufstehn, Frühschicht, das war die Unangenehmste, weil man den verpassten Schlaf nicht nachholen konnte, weder am Setzkasten noch an der Linotype. Da rannte ich denn, wenn die Nacht zu lang oder der Schlaf zu kurz gewesen war, durch den Morgenwind, das Hemd nicht in der Hose, ungekämmt und ungewaschen, um ja nicht wieder zu spät zu kommen. Das Kämmen dann schnell an der Stechuhr, Stempelkarte rein und dann die Setzmaschine anschalten, dann die Kollegen begrüßen, mit Handschlag, dann durchschnaufen, dann aufs Klo: kleine Morgentoilette. Und dann erst ging’s los.
Der Faktor oder der Meister mit schrägem Blick, der Kollege zwinkerte, der Korrektor winkte mit den Korrekturfahnen, das hatte ich gestern gesetzt, fast fehlerfrei und in guter Zeit, trotz allem. Denn die Zeit musste halten, du musst gut sein in der Arbeit, wenn du frech werden willst, du musst zu den Verlässlichen gehören. Es war Ehrensache, gute Arbeit abzuliefern, die andere Form der Norm. Der Meister schaute auf meinen Arbeitszettel, der war jeden Tag abzugeben, sah, was anlag bei mir an Satzarbeit, und drückte mir ein neues Manuskript in die Hand. Zwei Stunden, das war die Zeitvorgabe. Der Text hüpfte, hatte wenig Pfiff, und der Redakteur hatte sich bei den Verbesserungen keinerlei Mühe gegeben. Schad drum. Manche Korrektur war überhaupt nicht lesbar: eine Sauklaue!
Am schnellsten ging es immer, wenn ich den Artikel kurz überflog und dann wusste, worauf der Autor hinauswollte. Ich konnte dann vollkommen frei vom Manuskript einen nahezu komplett neuen Text setzen. Anstandshalber übernahm ich die eine oder andere Passage, der Korrektor wusste Bescheid, aber er durfte keinesfalls meinen Handabzug mit dem Manuskript vergleichen. Auf diese Weise schaffte ich mit Leichtigkeit die Zeitvorgabe und hatte Vorderwasser, freie Zeit also, um Luft zu schnappen oder noch mal aufs Klo zu gehen: Ruheort der Arbeiterbewegung. Vielleicht mal bissel Nickern für ein Viertelstündchen oder auch eilfertig, aber doch unauffällig durch die Setzerei oder den Drucksaal laufen und hören, was anlag an Neuigkeiten, mit schrägem Blick auf mögliche Beobachter.