Der erwünschte Abgang
Von Michael Friederici**
Dass Kevin Großkreutz gehen musste, hat nichts mit Moral oder Vorbild zu tun. Der „Pöhler“ aus dem Pott passt einem Scheinheiligen wie Wolfgang Dietrich nicht ins Schaufenster des VfB Stuttgart.
Kevin war mal wieder nicht allein, und erst recht nicht zuhause. Der 28-Jährige ist vor einem trainingsfreien Tag, in einer Rosenmontagsnacht bis nach zwei Uhr mit VfB-Jugendspielern (U17) „unterwegs gewesen“ (na und?), schlimmer noch: Er war „krankgeschrieben“ (arbeitsrechtliche Relevanz), feierte auf einer Oberstufen-Party in einer Stuttgarter Edeldisco (soll es geben), hat offenbar auch noch dem „Laufhaus“ einen Besuch abgestattet (scheiße!) und bekam einige Meter weiter so die Fresse poliert, dass er im Krankenhaus behandelt werden musste (peinlich). So weit, so dunkel.
Es folgten die klassischen Leerformeln: nicht leicht gemacht, gewissenhaft und verantwortungsvoll, einvernehmliche Vertragsauflösung mit sofortiger Wirkung. Obwohl keiner nix wirklich weiß: Aus dem bislang Bekannten folgt nicht notwendig eine Vertragsauflösung. Dazu sollte man wissen, dass schon große VfB-Trainer sturzbesoffen aus derselben Disco gefallen sind, von den Eskapaden eines Mayer-Vorfelder ganz zu schweigen. Wilde Geschichten über Fußball-Profis und Funktionäre, auch in einschlägigen Etablissements, gehören zum Standard-Repertoire aus 1001 Fußballnacht. Den Kickern werden Fehltritte jeder Art, ja sogar Strafdelikte und das Dschungelcamp verziehen.
Kevin Großkreutz nicht. Er stellte sich, akzeptierte den Rausschmiss, will mit dem „Profifußball erst mal nichts mehr zu tun haben“ und bat eindringlich darum, ihn und seine Familie in Ruhe zu lassen.
An dieser Stelle könnte man die Akte schließen. Aber erstens hat die skandalgeile Meute Blut geleckt; zweitens werden garantiert weitere Details „durchgesteckt“, wenn der VfB die Deutungshoheit verlieren sollte, etwa bei weiteren Punktverlusten in Liga zwei; drittens bleibt die zentrale Frage weiterhin unbeantwortet: Warum musste Großkreutz wirklich gehen?
VfB-Manager Jan Schindelmeiser sprach von „einer besonderen Vorbildfunktion“ der Profis, insbesondere den Jugendspielern gegenüber. Vom Sport als Wertevermittler war die Rede. Sollen wirklich diese total vermarkteten Litfaßsäulen in kurzen Hosen als Vorbilder agieren? Diese ganzkörpertätowierten Yuppies und Hipster mit der Sozialkompetenz eines Anlagenberaters? Oder vielleicht Jérôme Boateng, der allein über 650 Paar Sneakers sein eigen nennt? Die brav angepassten Lahms, Hummels, Götzes? Die verhandlungssicheren Draxlers, Lewandowskis? Oder darf es vielleicht gleich der neue Mercedes-Mannschaftsbus für die National-Elf sein? Wie steht es denn um die Vorbildfunktion der Fußballmischpoke um Blatter, Infantino, Niersbach, Beckenbauer, Warner und Konsorten?
Die vorbildlichen Saubermänner (nicht nur) vom VfB sollten gefälligst erst einmal vor der eigenen Tür die Kehrwochen einhalten, bevor sie Urteile über andere sprechen. Nähmen sie ihre Vorbildfunktion wahr, hätten sie längst die Stimme gegen die mafiösen Fußball-Netzwerke erheben müssen! Dann müssten sie konsequenterweise den unschuldigen Fußballnachwuchs vor dem Umgang mit Funktionären, Beratern und Verbänden warnen, und davor, sich von der Fußball-Cash-Cow verdauen zu lassen.
Ein Malocher, der Fußball verkörpert
Auch wenn es diesen Scheinheiligen nicht passt: Nicht sie verkörpern das „Wesen des Fußballs“ (wenn es denn so etwas gibt), sondern der Dortmunder aus dem Malocher-Vorort Eving, Kevin Großkreutz. Er ist Fußball-Fan und Fußball-Star, authentischer Rüpel und unschuldige Seele. Wenn er sich aufs Herz schlägt, dann ist das nicht nur eine Geste. Er spielt tatsächlich da, wo ihn sein Trainer hinstellt.
Kevin verkörpert alles, was man dem Profikicker von heute nur qua Psychotrick und Prämie beibiegen kann: Mannschaftsgeist, Vereinstreue, Leidenschaft, Hingabe. Damit ist er Deutscher Meister, Pokalsieger, Nationalspieler, Mit-Weltmeister geworden. Er hat sich immer für die Kickerei, nie für seinen „Karriereplan“ entschieden.
Deshalb blieb er auch nach dem Abstieg in Stuttgart. Jürgen Klopp adelte diesen Mann, nicht zufällig als die „Standleitung zu unseren Fans“. Und die haben ein feines Gespür für Leute, die es ehrlich meinen. Deshalb lieben sie ihn. Deshalb haben sie Petitionen im Netz gestartet, um ihn zu unterstützen, um ihn zurückzuholen. Deshalb standen sie Spalier, als er nach der Pressekonferenz das Gelände des VfB verließ – und klatschten ihm Beifall. Sie machten sich damit auch selbst Mut. Schließlich ahnen sie, dass so einer nicht mehr in die Auslage eines modernen Geschäftsbetriebes passt. Auf sie selbst kommt es im Geschäft mit dem „Marken-Event-Fußball“ seit geraumer Zeit auch nicht mehr an. Sie sind im Stadion-Shop des Big-Kick-Bizz zu „Kunden“ mutiert und dürfen allenfalls noch mit Stimmung und Choreos zur weltweit gut verkäuflichen Verpackung des milliardenschweren Entertainmentprogramms für die ganze Familie beitragen.
Präsident Dietrich braucht saubere Marken-Botschafter
In Stuttgart arbeitet der Unternehmer Wolfgang Dietrich an diesem Programm. Er ist einer, der Sätze wie „Außerdem ist mir wichtig, dass wir die Prozesse transparent gestalten und nach Möglichkeit optimieren“ unfallfrei aussprechen kann, ohne schamrot zu werden. Kein Wunder, er war jahrelang Sprecher des, sagen wir, „umstrittenen“ Projektes Stuttgart 21. Am 9. Oktober 2016 wurde er zum Präsidenten des VfB Stuttgart gewählt, vorbildlich demokratisch, vorbildlich „alternativlos“ – also ohne Gegenkandidat – mit vorbildlich knappen 57,2 Prozent.
Fest steht wohl, dass er entscheidungsstark auf die Ausgliederung der VfB-Profiabteilung in eine Aktiengesellschaft zusteuert. Seinen Mitarbeitern verpasste er erst einmal einen mehrseitigen Verhaltenskodex à la US-Handelskonzern Wal-Mart. Alle, vom Greenkeeper bis zum Spieler, sollen sich als „Marken“-Botschafter des Vereins und der Sponsoren begreifen. In so einem Hochglanz-Konstrukt sind „Pöhler“ (Straßenfußballer) wie Kevin Großkreutz nur schwer zu vermitteln. Auch deshalb dürfte die neue Spitze des VfB die großkreutzsche Rosenmontagssteilvorlage so liebend gern aufgenommen haben.
Werte schwäbische Fußballfreunde, zum Schluss noch ein guter Rat aus dem Norden: Passt bloß auf, dass dem Kevin nix passiert und dass aus eurem Verein keine große Bahnhofsbaustelle wird.
*Der 1. Teil der Geschichte erschien am 26.1.2016 anlässlich des Wechsels von KG nach Stuttgart.
**Michael Friederici ist zuerst einmal Dortmunder, BVBler, um genau zu sein. Und das, seit sein Onkel Fritz mit ihm ins damalige Stadion Rote Erde pilgerte. Da hat er Fußball-Fan gelernt, das Schreiben bei der „Westfälischen Rundschau“, danach wohlfeile Kritiken fürs Tübinger Tagblättle verfasst und nebenbei noch das Zentrum Zoo und die Französischen Filmtage mitbegründet und -geleitet. Nach vielen Jahren bei einer Hamburger Filmproduktion nennt er sich jetzt wieder Kulturarbeiter. In dieser Eigenschaft arbeitet er auch für das Dortmunder Online-Fanzine „Gib mich die Kirsche“.
Sein oben stehender Beitrag ist in der letzten Woche im Onlinemagazine aus Stuttgart KONTEXT:Wochenzeitung – Ausgabe 310 – erschienen. Wir danken der Redaktion des Magazins zum Abdruck des vorstehenden Beitrags.