Gedicht des Tages

Zwei alte Leute am 1. Mai

Teobald Tiger*

– »Weißt du noch, Alter, vor dem Kriege?
Wir haben manchen Mai erlebt.
Wir glaubten an die schnellen Siege –
du hast das Streikplakat geklebt … «

– »Ja, Alte, das waren schöne Zeiten …
Wir waren allemal dabei –
Ich seh uns noch im Zuge schreiten
am 1. Mai.«

– »Und unser Jüngster war noch klein. Den ließ ich
zu Haus … wir gingen los mit Hans.
Mitunter wars ja etwas spießig –
so … Kriegerverein mit Kaffeekranz.«

– »Na, laß man – du warst doch die Nettste!
Mir wars bloß zu viel Dudelei …
und anno 14 wars denn auch der letzte –
der 1. Mai.«

– »Kein Wunder. Mußt mal denken, Alter:
Wer ist uns da voraufmarschiert!
Der Wels als roter Fahnenhalter,
der Löbe, prächtig ausstaffiert … «

– »Ja solche haben glatte Hände …
Für die ist frisch, fromm, frech und frei
der Klassenkampf schon längst zu Ende –
Die und der 1. Mai!
Was wissen die vom Klassenkrieg … !
Die schützen sich vor ihrer eigenen Republik –!«

– »Na, laß man, Alter, die Beschwerde.
Ich weiß, dass etwas in uns singt:
Wacht auf, Verdammte dieser Erde,
die stets man noch zum Hungern zwingt!«

– »Wir wissen, Alte, was wir lieben:
den Klassenkampf und die Partei!
Wir sind ja doch die Alten geblieben
am 1. Mai! Am 1. Mai!«

*Unter dem Pseudonym Theobald Tiger veröffentlichte Kurt Tucholsky (1907-1935) das vorstehende Gedicht „Zwei alte Leute am 1. Mai“ im Jahr 1930 in der Arbeiter Illustrierte Zeitung, Nr. 17, S. 329.