Wer Rettungskräfte behindert, ist mit schuld, wenn
Menschen sterben
Diese junge Frau ist kein Opfer einer Naturkatastrophe. Sie starb, weil sie schwarz ist und südlich der Sahara geboren wurde. Diese mutige junge Frau, die in ihrem kurzen Leben so viel durchmachen musste, starb, weil sie den legitimen Wunsch hatte nach einem besseren Leben, nach einem Leben ohne Angst.
Wenn wir über die Situation auf dem Mittelmeer sprechen, dann dürfen wir nicht vergessen, dass es hier nicht um Flüchtende oder Migranten und schon gar nicht um Invasoren geht, sondern um Menschen mit legitimen Bedürfnissen, mit Träumen. Es geht um Menschen, die ein Anrecht haben auf ein Leben in Würde.
Kompromissloses Verständnis von Menschenrechten
Es ist traurig, dass wir an einem Punkt angelangt sind, dass man so etwas wieder klarstellen muss. Wenn ein Blatt wie die „Zeit“ es für geboten hält, die Frage zu stellen, ob es legitim ist, Menschen aus Seenot zu retten, dann müssen bei uns alle Alarmglocken schrillen! Die Redakteurin Mariam Lau, im Übrigen selbst mit Migrationshintergrund, unterstellt uns SeenotretterInnen ein kompromissloses Verständnis von Menschenrechten. Ja, wie soll man die denn bitte sonst verstehen, Frau Lau? Die Dinger heißen nicht umsonst „unveräußerlich“!
Auf dem Mittelmeer geht es nicht mehr nur um eine rückläufige Zahl Flüchtender. Hier stehen zivilisatorische Grundfesten auf dem Spiel. Die Würde des Menschen ist antastbar geworden. Es geht jetzt um nicht weniger als die humanistischen Grundprinzipien, die auf dem Mittelmeer verteidigt werden. Denn wenn Menschenrechte, so wie das aktuell der Fall ist, zur Verhandlungsmasse werden, dann ist unsere Demokratie ernsthaft in Gefahr!
Es ist eine Bankrotterklärung des mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Europas, wenn ich hier stehe und spreche. Denn eigentlich sollte ich jetzt als Teil der Crew, der Sea-Watch 3, auf See sein. Aber unser Schiff liegt im Hafen, weil Malta uns das Auslaufen verweigert, während da draußen Menschen sterben.
Die letzten drei Tage habe ich auf verschiedenen Flughäfen und in Gesprächen mit AnwältInnen, DiplomatInnen und PolitikerInnen verbracht, um eine Lösung zu finden, wie wir zumindest die NGO-Aufklärungsflugzeuge „Moonbird“ und „Kolibri“ wieder in die Luft bekommen. Auch sie werden gerade von den maltesischen Behörden blockiert. Es geht dabei ganz offensichtlich darum, Zeugenschaft zu verhindern, die Öffentlichkeit soll nicht sehen, was an Europas Grenzen passiert.
Wer von Asylflut spricht, hat Ebbe im Kopf
Anstatt sich von Seehofer wie die Sau durchs Dorf treiben zu lassen, muss die SPD für eine Versachlichung der Diskussion sorgen. Nicht Flüchtende, sondern die unsägliche Ausgrenzungsrhetorik von Seehofer & Co. haben Europa genau dahin gebracht, wo es jetzt steht – am Abgrund.
Als ich ungefähr so alt war wie das Mädchen, von dem ich erzählt habe, habe ich zum ersten Mal eine längere Reise alleine ins Ausland unternommen. Die war allerdings weit weniger gefährlich. Ich war damals unter anderem in Oslo, wo auf einer Museumswand ein Zitat von Thor Heyerdal stand: „Borders? I have never seen one, but I have heard, they exist in the minds of some people.“
Wir müssen aufhören, uns von diesem Angstdiskurs treiben zu lassen, wir müssen raus aus der Verteidigungshaltung. Ich bin 1989 geboren, ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der Grenzen geöffnet wurden, und ich habe damit durchweg positive Erfahrungen gemacht. Wir müssen über die Chancen von Migration reden und nicht immer nur über angebliche Gefahren. Wer von Asylflut spricht, hat Ebbe im Kopf.
Es gibt jedoch eines, worüber ich selbst mit Seehofer einig bin: Wir müssen gegen rechtsfreie Räume vorgehen. Jene befinden sich aber nicht an der bayerisch-österreichischen Grenze. Der größte rechtsfreie Raum ist die libysche SAR-Zone, wo die libysche Küstenwache als Handlanger der europäischen Abschottungspolitik die Drecksarbeit erledigt und im Auftrag auch der Bundesregierung täglich das Völkerrecht bricht. Menschen, die geflohen sind, aus internationalen Gewässern nach Libyen zurückzubringen, ist eine Menschenrechtsverletzung und ein Verstoß gegen die Genfer Konvention. Deshalb unterstützen wir derzeit 16 Überlebende bei einer Klage am Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, gegen den italienischen Staat, der diese „Pull backs“ koordiniert.
Malta verhindert, dass genau hingeschaut wird
Dass die sogenannte libysche Küstenwache diese Woche offensichtlich lebende Personen, die sich weigerten, zurück nach Libyen gebracht zu werden, auf See zurück ließ und deren ohnehin seeuntaugliches Schlauchboot zerstörte, ist ungeheuerlich.
Was mir derzeit große Sorgen bereitet, ist auch die Tatsache, dass zur Stunde nach wie vor 40 Gerettete an Bord des Handelsschiffes SAROST 5 ausharren müssen. Sie sind in der maltesischen SAR-Zone gerettet worden und illegalerweise zurück in tunesische Gewässer gebracht worden, wo ihnen seit einigen Tagen die Einfahrt verweigert wird. Hier wird möglicherweise gerade ein extrem gefährlicher Präzedenzfall geschaffen, denn in Tunesien gibt es kein Asylsystem, dieses Land kann kein sicherer Hafen sein. Da müssen wir die nächsten Stunden und Tage sehr genau hinschauen, aber genau das möchte Malta verhindern. Unser Flugzeug ist startklar, unser Schiff ist auslauffertig, unsere Crew steht bereit, und wir haben die beste Kapitänin der Welt. Wer Rettungskräfte behindert, ist mit schuld, wenn Menschen sterben.
Im Strafgesetzbuch steht unter Paragraph 323c: Strafbar handelt, wer eine Person behindert, die einem Dritten Hilfe leistet oder leisten will. Wer einen Krankenwagen daran hindert, zu einem Verkehrsunfall zu fahren, der muss sich dafür zu Recht vor Gericht verantworten. Doch genau das passiert im Moment in Malta, und deshalb sollte sich auch der Bundesinnenminister vor Gericht verantworten müssen, der exakt das im Bundestag gefordert hat.
Gemeinsam eine Seebrücke bauen
Es gibt aber auch Hoffnung in diesen schwierigen Tagen. Diese Hoffnung seid Ihr. Vor einigen Wochen war ich in Palermo, wo Oberbürgermeister Leoluca Orlando VertreterInnen aus der Zivilgesellschaft und aus unterschiedlichen europäischen Städten eingeladen hat, um ein Netzwerk solidarischer Städte aufzubauen. Wir waren in Barcelona, wo die Bürgermeisterin Ada Colao uns und unsere Schiffe mit offenen Armen empfangen hat.
Und damit komme ich zu meinem letzten, für Stuttgart wichtigsten Punkt: Als auf der „Lifeline“ vor kurzem 234 Menschen ausharren mussten, weil sich kein europäischer Staat bereit erklärt hatte, sie aufzunehmen, haben sich auf unsere Initiative hin mehrere Bundesländer bereit gefunden, einen Teil der „Lifeline“-People nach Paragraph 23 des Aufenthaltsgesetzes aufzunehmen. Unser Dank gilt unter anderem der rot-rot-grünen Regierung in Berlin, sowie der Jamaika-Koalition in Schleswig- Holstein. Baden-Württemberg fehlt.
Wo ist Winfried Kretschmann? Ist er vielleicht mit seinem Diesel zu seinem Enkel gefahren, um den Kopf in den Sandkasten zu stecken, während Europa krachend scheitert? Oder hat er vor, als Ministerpräsident eines der reichsten und wichtigsten Bundesländer, seinen Teil der Verantwortung irgendwann noch wahrzunehmen? Und was ist mit Fritz Kuhn, was ist mit Stuttgart? Ich wohne mittlerweile in Berlin, dort ist die Stadt bereits dabei, sich zur solidarischen Stadt zu machen. Wir sind viele hier, und ich denke, Stuttgart kann das auch!
Deswegen stehen wir heute hier. Gegen das Sterbenlassen, für Seenotrettung, für ein solidarisches Stuttgart und ein solidarisches Europa. Wir werden gemeinsam eine Seebrücke bauen.
*Ruben Neugebauer
ist gebürtiger Reutlinger, Fotojournalist, Aktivist und beim Aktionskunstkollektiv Peng! aktiv. Kontext-LeserInnen ist der 29-Jährige bekannt, seit er im Herbst 2014 einen Hilfstransport in die Kurdengebiete in Syrien organisierte und in der Türkei festgenommen wurde. 2015 hat Neugebauer Sea-Watch mit aufgebaut. Seitdem konnte die Seenotrettungsorganisation rund 30 000 Flüchtende vor dem Ertrinken im Mittelmeer retten. Neugebauer ist in der Organisation der Überflieger und für Kampagnenarbeit und die Luftaufklärung zuständig.