Leerstand mit Heimsuchung
Eine Kolumne von Peter Grohmann
KONTEXT:Wochenzeitung vom 10.04.2019
Bevor wir uns Benjamin Netanjahuhu zuwenden und ihn herzlich bitten, Putins Idee mit der weiteren Annexion des Westjordanlands wenigstens zu überschlafen, eine Bitte an die Regierenden: Baut Wohnungen! Nein, nicht persönlich, lasst das mal die anderen machen. Wenn nicht, gibt es verdammt nochmal gewaltigen Ärger und Pfefferspray in den Plenarsälen!
Eure Anhänger waren ja mit Euch am vergangenen Samstag fast zu 100 000 auf den Straßen der Republik und haben eimerweise Sand unter die protestierende Menschheit gestreut. Baut Wohnungen, wenn ihr nicht wollt, dass die Dach- und Bettlosen auf den Uni-Campussen, den Schloss- und Alexanderplätzen ihre Zelte aufschlagen, mit ihren Schlafsäcken die Tiefgaragen der Opernhäuser (warm mit Rigoletto) und Regierungsviertel, die Landtagslobbys oder die Flure der Rathäuser heimsuchen! Das wäre die adäquateste Protestform.
Und jetzt mal ganz unter uns – denn viele der Wohnsitzlosen haben ja oft gar kein Eigenheim und kein Kontext-Abo, weil der Briefkasten fehlt! Sie bekommen diese aufmunternden Zeilen also nie zu Gesicht. Aber einfach so in der Stadt rumlatschen und sich an Infotischen die Flyer der Parteien über die Miet-Misere aufs Auge drücken zu lassen, ist ineffektiv. Klar, die Parteien rechnen mit der Vergesslichkeit ihrer Wählerinnen. Sie rechnen richtig.
Wer weiß schon noch, wer im kommunalen und Landesbereich dem sozialen Wohnungsbau den Hals umgedreht hat, wer seine Ländereien profitorientiert, also meistbietend, verscheuert, wer ahnt, wie weit man schon den Investoren in den Hintern gekrochen ist? Wer denkt noch an Vonovia & Co KG, an die andere Krähen, denen „man“ das Wohn-Gemeineigentum zugeschustert hat, zehntausende kommunaler und genossenschaftlicher Wohnungen?
Allenfalls meine Omi Glimbzsch in Zittau: Vorwärts, und nicht vergessen, worin unsere Stärke besteht! Beim Hungern und beim Essen, vorwärts und nie vergessen: die Solidarität! Schön haste gesungen, Omi, und denk‘ an Oskar: „Demokratie ist eine spezifische Lebensform, die existentiell vom entwickelten Urteilsvermögen abhängt. Wo solche Prozesse der gesellschaftlichen Urteilsbildung stocken oder zu bloßen Ritualen heruntergewirtschaftet werden, zeigen sich sehr schnell Brüche im Gesellschaftsgefüge“ (Negt).
Verarschung kann man erkennen, Demokratie kann man lernen. Etwa beim Stuttgarter Demokratiekongress am 13.4. im Literaturhaus. Wir sprechen uns noch!
Peter Grohmann ist Kabarettist und Koordinator des Bürgerprojekts Die AnStifter. Die KONTEXT:Wochenzeitung ist eine Internet-Zeitung aus Stuttgart, die seit mehr als 7 Jahren wöchentlich mittwochs ins Netz gestellt wird. Zusätzlich liegt sie als Printausgabe der Wochenendausgabe der taz bei. Wir danken der Redaktion und Peter Grohmann für die Zustimmung zum Abdruck der Kolumne. Näheres unter:
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