Abitur am Heinrich-Heine-Gymnasium im Jahr 2015

Abitur-Rede des Schulleiters
des Heinrich Heine Gymnasiums Nette – Dr. Detlef v. Elsenau –
vom 19.6.2015
(Auszug)

Nach der Begrüßung der Gäste, der Schüler und des Kollegiums  sowie nach einigen statistischen Angaben zum Abiturjahrgang 2015 wendet sich Dr. v. Elsenau an die Abiturienten:
„Jeder Abiturjahrgang ist für sich etwas Besonderes. Zwar finden sich in jedem Jahrgang geradezu zwangsläufig die typischen Charaktere von Schülern wieder, dennoch erinnern wir uns als Lehrer an unserer einzelnen Abiturkurse insbesondere aufgrund der verschiedenen Persönlichkeiten, die sich im Laufe der Schulzeit entwickelt haben und deren Entwicklung wir in großen Teilen miterleben durften.

Auch mich verbindet mit ihrer Stufe eine große Anzahl von Erinnerungen und Erlebnissen, habe ich doch schon viele von ihnen in der Sekundarstufe eins unterrichtet, einige in der Einführungsphase und letztlich auch in der Q2.
Ich habe in Ihrer Stufe gerne unterrichtet, obwohl Sie Mitglieder der Genration Y sind. Allerdings sind Sie in diesem Zusammenhang etwas ganz Besonderes, Sie sind der letzte Jahrgang der Generation Y, die nach ihnen geborenen werden in der Literatur als Generation Z bezeichnet. Jenseits aller kritischen Überlegungen zum Sinn einer solchen verallgemeinernden Klassifizierungen, finde ich es ganz reizvoll, sich mit den Charakteristika auseinanderzusetzen, ähnlich der Lektüre eines Horoskops, wenn wir feststellen, dass Vieles zutrifft.

Schaut man in aktuellen Veröffentlichungen von Jugendforschungsinstituten nach, so findet man immer wieder Hinweise auf folgende Charakteristika:
• Technologieaffine Lebensweise: erste Generation, die größtenteils in einem Umfeld von Internet und mobiler Kommunikation aufgewachsen ist.
• Selbstverwirklichung: Suche und Nutzung von Freiräumen, die es ihnen ermöglichen, sich selbst zu verwirklichen
• Spaß: Sie möchten, dass das, was Sie tun, Spaß macht, also schon während der Arbeit glücklich sein.
• „Egotaktiker“: alle wichtigen Lebensentscheidungen werden auf den unmittelbaren Vorteil und Nachteil für die eigene Person abgeschätzt.

Aus dem Blickwinkel eines eingefleischten und in der Wolle gefärbten 68ers sehen Sie, liebe Ypsiloner, mit diesen Eigenschaften allerdings ganz alt aus. Denn:
• Wir 68er habe die Welt verändert, Sie Ypsiloner konsumieren sie.
• Wir 68er haben das System und seine Handlanger, ihre Rituale und ihre Kleidung verachtet und uns die Abiturzeugnisse in Parker und Jeans gekleidet in der Hausmeisterloge abgeholt, Sie Ypsiloner lassen sich in diesem bourgeoisen Rahmen feiern und verkleiden sich morgen Abend sogar für ihren Festball.
• Wir 68er haben der Doppelmoral von Kirche, Elternhaus und Schule die kalte Schulter gezeigt und nach der Devise gelebt: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“ Sie Ypsiloner wollen wieder zurück zu traditionellen Werten wie Monogamie, Ehe und Familie.

Es scheint menschlich zu sein, dass wir unsere eigenen Nester und Wurzeln schützen wollen und bewertend mit den uns nachfolgenden Generationen umgehen. Dieses „Früher war alles besser“ drückt allerdings in erster Linie ein Gefühl von Skepsis und Sorge aus, denn weder wird „früher“ noch wird „besser“ definiert und tut man es, wird sehr schnell deutlich, dass diese Aussage recht substanzlos ist.

Und vergleicht man die genannten 68er-Klischees mit der Realität meiner meines eigenen Verhalten als Jugendlicher, dann wird dies auch sehr schnell sichtbar.
• Ich war nicht so altruistisch, wie es sich anhört, wir wollten die Welt auch deshalb verändern, weil wir uns von unseren Eltern und Lehrern eingeschränkt fühlten, die spießigen und muffigen 50er Jahre endlich hinter uns lassen wollten und weil der Protest selbst einen Riesenspaß gemacht hat.
• Auch ich habe mein Zeugnis im Rahmen einer kleinen Abiturfeier erhalten. Es war die Stufe vor uns, die sich das Zeugnis beim Hausmeister abgeholt hat.
• Auch ich – genauso wie meine Freunde – hatte in Ihrem Alter feste und auch längerfristige Beziehungen.

Die Generations-Klassifikationen beschreiben offensichtlich also weniger einzelne Individuen als vielmehr die Gesellschaft, in der diese groß werden.
Denn dafür, dass ich die 68er Jahre bewusst miterlebt habe, kann ich nichts, es ist nicht mein Verdienst. Auch dass wir als Jugendliche in einem sehr hohen Maße politisiert und gesellschaftskritisch waren, war und ist nicht unser Verdienst. Die gesellschaftlichen Verhältnisse waren eben so.
Wäre ich heute Abiturient, hätte ich die gleiche Sozialisation hinter mir wie Sie und ich wäre ein Ypsiloner oder damit ein Jugendlicher der mit digitalen Medien groß geworden ist und sie umfänglich nutzt, der relativen Wohlstand erlebt, der Eltern hat, die sich nicht im Nationalsozialismus mitschuldig gemacht haben, der in einer Zeit lebt, in der männliche Homosexuelle nicht mehr ins Gefängnis müssen und der den kalten Krieg und den Kampf der Systeme nur aus Schulbüchern kennt.

Aber bedeutet diese Erkenntnis, dass wir nur Produkte unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit sind? Oder können wir auch Konstrukteure unserer eigenen Realität und der uns umgebenden Gesellschaft sein?
Aus meiner Sicht haben Sie als Abiturienten bei der Beantwortung dieser Frage keine Wahl. Wir haben Sie an unserer Schule dazu ausgebildet – und mit Blick auf die Ergebnisse des Abiturs offensichtlich sehr erfolgreich ausgebildet – zu erkennen, dass wir sehr wohl die gesellschaftliche Wirklichkeit beeinflussen können und beeinflussen müssen.

Denn all unsere Regeln und Gesetze sind nichts weiter als eine Erfindung der Menschen, anders als die Naturgesetze. Denn diese gelten ohne unser Eingreifen und ohne unsere Beurteilung. Newton hat die Schwerkraft nicht erfunden, er hat ihr einen Namen gegeben.
Dem gesellschaftlichen Leben fehlt es aber gewissermaßen an dieser Schwerkraft. Wir müssen sie erfinden, um festen Boden unter unsere Füße zu bekommen. Gesellschaftliche Konventionen, Normen, Gesetze usw. sind in diesem Sinne nichts anderes, als der Versuch, die ewigen menschlichen Werte der Freiheit und des Lebens selbst mit der „ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft“ in Einklang zu bringen.

Es ist der Versuch, die paradoxe Situation in den Griff zu bekommen, dass das, was unsere Freiheit sichert, genau diese auch einschränkt. Der Einzelne, das jeweilige Individuum spürt diese Einschränkung seiner Freiheit und die damit zusammenhängende Qualität seines Lebens verschieden stark, je nachdem, wie groß sein Anteil an Macht und Wohlstand ist. Diesen Anteil für jedermann möglichst gleich zu gestalten, das hat sich unsere demokratische Gesellschaftsordnung auf die Fahnen geschrieben.
Aber auch diese Gesellschaftsordnung ist und bleibt nur eine Erfindung von Menschen mit all den Schwächen, die menschliche Erfindungen haben können.
Und hier kommen Sie ins Spiel. Denn die Aufgabe der Jugend ist seit ihrer Entstehung immer die gleiche:
Die Jugend ist ökonomisch noch nicht korrumpiert. Sie sind noch nicht gezwungen, eine Familie zu ernähren und dafür immer wieder Kompromisse eingehen zu müssen, ihre Gehirne sind noch risikofreudig. Kurz, Sie sind noch nicht durch die Gravitation des Alltags desillusioniert, Sie können diese Gesellschaft noch voranbringen und verändern, wenn nicht Sie wer dann?

Ich habe deshalb so gerne bei Ihnen unterrichtet, weil ich Anteil habe durfte an einem Prozess, in dem Pubertätsmonster zu Persönlichkeiten gereift sind, die mir die Sicherheit geben, dass es in diesem Sinne weitergeht, dass Sie bereit sind, das, was Sie in unserer Schule gelernt haben, dafür einzusetzen, sich weiterzubilden und die in Sie gesetzte Verantwortung in den verschiedenen Positionen unserer Gesellschaft zu übernehmen.
Ich habe in Ihren Reihen viele beeindruckende Persönlichkeiten kennengelernt. Dabei meine ich bewusst nicht das, was der BVB-Hausphilosoph Kevin Großkreutz in Bezug auf Mkhitaryan und Sokratis „Charakter-Raketen“ nennt. Ich meine jungen Menschen, die bei aller Spaßorientierung ihrer Generation die Herausforderungen unserer Zeit erkennen und bereit sind, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Ich möchte mich vor dem Hintergrund dieser Gedanken und bewusst an dieser Stelle herzlich bei Ihnen, liebe Malin, lieber Milan für die außerordentlich konstruktive Zusammenarbeit in Ihrer Rolle als Sprecher und Interessenvertreter Ihrer Mitschüler bedanken.
Wenn Sie gleich Ihre Abiturzeugnisse empfangen, dann genießen Sie Ihren Triumpf, feiern Sie Ihren Erfolg, spüren Sie dann aber, wenn Sie genug gefeiert haben, auch Ihren Auftrag, unsere Gesellschaft ständig neu zu erfinden. Nutzen Sie ihre Ypsilon-Stärken!

In diesem Sinne:
Zu Ihrem bestandenen Abitur meine allerherzlichsten Glückwünsche. Halten Sie Ihrer alten Schule gedanklich die Treue und seien Sie versichert, dass Sie jederzeit herzlich willkommen sind und wir uns sehr freuen würden, Sie zu dem einen oder anderen Anlass wieder treffen zu können.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien heute und in Zukunft Gesundheit und Zufriedenheit, Glück und Erfolg!“

Abi HHG 2015

(Zum Vergrößern des Fotos dieses bitte anklicken)

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